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Short
Cuts
Desinfektion
und Correctness
Über den kurzweiligsten aller Dreistundenfilme:
die »Short Cuts« des Zivilisationskritikers Robert Altman
Neun Kurzgeschichten und ein Gedicht des
gepriesenen amerikanischen Arbeiterdichters Raymond Carver (1938-1988) hat Regieveteran
Robert Altman in Beziehung gesetzt; sie gehen überraschende, auch unerlaubte
Verbindungen ein, blühen auf, befruchten sich, verwelken und werden uns
in diesem kurzweiligsten aller Dreistundenfilme desto vertrauter und lieber,
je unkorrekter und unhygienischer sie sind. Denn das ist ja nun wirklich nicht
in Ordnung, daß Swimmingpoolreiniger Jerry Kaiser (Chris Penn, zuletzt
einer der bitterbösen »Reservoir
Dogs«) sich bei
einem dieser geselligen Picknicks die Hosentaschen mit Dosenbier vollstopft,
sich mit einem Kumpel in die Büsche schlägt und einer der beiden noch
sehr jugendlichen, aber doch auch abenteuerlustigen Fahrradfahrerinnen den Kopf
einhaut, einfach so. Ende der Short Story bei Carver.
Bei Altman scheint der brutale Sexualmord
Konsequenzen zu haben; die Erde selbst brüllt auf und schüttelt sich,
Steine fliegen durch die Luft: ein Erdbeben mittlerer Güte. Ist damit die
böse Tat hinlänglich kommentiert? Mitnichten, denn aus den TV-Regionalnachrichten
erfahren wir, daß das Erdbeben ein Opfer gefunden hat, von umherwirbelnden
Felsbrocken erschlagen. Der Erdstoß liefert dem Mörder das Alibi.
Mit diesem eher asozialen, aber, wie sich zeigen wird, schlüssigen Einfall
haben die Filmautoren (Altman und Barhydt) die Natur bemüht, um aus dem
Zusammenspiel der 22 Hauptdarsteller niemanden ausgrenzen oder gar einer der
von der Gesellschaft eingerichteten Autoritäten, zum Beispiel der Justiz,
überantworten zu müssen. Die Geschichten haben ihr offenes, anarchisches
Ende; sie gewährleisten das Überleben in einer auf Correctness und
Hygiene bedachten Zivilisation.
Altman ist Zivilisationskritiker. Auf
den Koreakrieg antwortete er mit »M*A*S*H«. Der frühkapitalistische
Unternehmer fand in »McCabe
and Mrs. Miller«
seinen Platz im Bordell, und nach dem Atomkrieg bleibt das »Quintett«
übrig. – In »Short Cuts« antwortet das Erdbeben mit seinen
möglicherweise etwas bedenklichen Folgen auf den seuchenhygienischen An-
und Eingriff der Technik. Zu Beginn des Films streuen Hubschrauberstaffeln massenweise
Pestizide auf ein Quarantäneareal, um die in meinen Wörterbüchern
nicht verzeichnete Med-Fly auszurotten. Der sterile Platzregen ergießt
sich über die Bungalows und Wohnwagenplätze der urbanen Wüste
von Los Angeles. – Altman macht Desinfektion, Sauberkeit, Correctness und moralische
Bereinigung, diese zur Zeit mal wieder so geschätzten Werte, zum Thema:
Immer wieder kommen die Geschichten seines Films auf die gewiß nicht unbedenklichen,
aber doch phantasiereichen und praktischen Einfälle zurück, mit denen
derjenige, der sich gegen die Berieselung mit Pestiziden und anderen Neuwerten
wehrt, der drohenden Abtötung zu trotzen versucht.
Beispiel für die Bereinigung: Der
uns schon bekannte Swimmingpoolreiniger kippt Chlor ins Wasser und weicht der
Annäherung einer älteren, aber attraktiven Kundin aus, die überdies
eine real existierende begnadete Jazz-Sängerin ist (Annie Ross selbst).
Seine Frau, Lois Kaiser (Jennifer Jason Leigh), ist mit Hilfe eines wohlausgestatteten
Hygiene-Sets permanent dabei, Kleinstkinder trockenzulegen, zu säubern
und zu windeln, während sie gleichzeitig
per Telefon (hygienisch!) Sexkunden bedient, von ihrem endlich feuchten Höschen
erzählt und korrekt abrechnet.
Beispiel für die Gegenwehr: Chlorreinigungsmittel
wird in die Waschmaschine auf das bunte Zeug der eifersüchtig beargwöhnten
Geliebten gegossen. Oder der Einsatz der neuen Feucht-Teppichreinigungsmaschine:
Der fleckenlose, wie neu strahlende Wohnzimmerteppich macht erst den rechten
Sinn, wenn, quasi als Antwort, ringsum, an den Wänden, der Hausrat aufgetürmt
ist, den Hubschrauberpilot Stormy Weathers (Peter Gallagher) mit seiner Kettensäge
zerkleinert hat.
»Short Cuts« legitimiert den
Zerstörungsbedarf, den eine steril-korrekte Zivilisation produziert. Diese
latente, aus ihrem eigensten Innern genährte Lust an der Destruktion ist
inzwischen ein wohlbekanntes Phänomen. Im Film kam die Antwort aus Japan
(Sogoh Ishiis »Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb«,
1984), aus Österreich (Hanekes »Der
siebente Kontinent«)
und 1991 aus der beigetretenen Bundesrepublik (Schlingensiefs »Das
deutsche Kettensägenmassaker«).
Carvers desaströs-normale Stories
erledigen sich nicht durch eine Pointe, absichernde Kommentierung oder andere
Distanzierungen. Sie sind genau und immer konkret, realistisch wie Maupassants
Kurzgeschichten. Wir werden mit ihnen vertraut, weil die Barrieren der Fiktion,
der Belehrung, der Be- oder Verurteilung fortfallen. Deswegen aber, will der
Zuschauer selbst seine Kino-Erfahrung machen, ist in »Short Cuts«
sowohl der selbstgerechte Macho von der Los Angeles Police auszuhalten (was
gut geht, denn Tim Robbins wurde für diese Rolle mit Festivalpreisen überschüttet)
als auch der bereits erwähnte Sexualmörder im Picknick-Wald.
Altmans Film ist so aufregend und kurzweilig,
weil er den Kinobesuch zum Erlebnis macht. Im Prinzip genügt es, einfach
da- und dabeizusein. Wer Leute kennenlernt, wird auch nicht verlangen, sogleich
mit ihren kompletten Karrieren versorgt zu werden. Charaktere sind zu entdecken.
Daher sind in diesem Film die Rollen nicht ausdefiniert. Die Kamera, und das
ist typisch für Altmans Regiekünste, folgt dem Darsteller, niemals
muß er (sie) sich in die vorgegebene fixe Position fügen. Die sensationell
sensible Kamera (Salt Lloyd, »Pump Up the Volume«) unterläßt
es strikt, die sonst übliche überschießende Bedeutung zu produzieren
oder doch zu transportieren. Entsprechend versagt es sich der (offene) Plot,
Herrschaft auszuüben. Die Dialoge sind herrschaftsfrei. Ähnlich dem
Libretto der Oper ist es nicht das Was der Texte, sondern das Wie des Ausdrucks,
der Gesten, des Rhythmus, der Bewegung, des Gebrauchs der Töne, das in
uns Beteiligung auslöst. Deswegen tut sich jeder, der ins Kino geht, das
größte Unrecht an, wenn er nicht die Originalfassung sieht. Man braucht
wirklich nicht jedes Wort von Tom Waits zu verstehen und zu übersetzen.
Waits spielt in diesem Arbeiter-Geschichten-Film einen Fahrer, der mit einer
Kellnerin (Lily Tomlin) in einer sinusartig verlaufenden, von (reichlichem)
Alkoholkonsum bestimmten Beziehung steht.
Waits/Tomlin sind zwei der 22 Stars des
Films. Und das funktioniert, denn mit dieser zweistelligen Hauptdarstellerzahl
werden alle Größen gleich. Wir können ihnen nähertreten,
sie vergleichen, wie auf einer Stehparty von einer zur anderen Gruppe gehen,
uns daruntermischen. Wir sammeln und vergleichen Eindrücke.
Ein synoptisches und synakustisches Verfahren.
Das Spiel der Darsteller, die Dramaturgie der Bruch- und Kurzstücke, vor
allem der Musikeinsatz werden mit den dafür vorgesehenen Sinnesorganen
aufgenommen. Musikerfahrungen im Film: Altmans hinzuerfundene Geschichte läuft
vor allem auf der Tonspur ab: zwischen der Stimme der Vokalistin und Ellington-Sängerin
Annie Ross und einem Cello, gespielt von der blonden Cellistin Lory Singer.
Stimm- und Streichorgan strukturieren die Handlung von »Short Cuts«.
Und die von Altman als Darsteller ausgewählten Musiker widersprechen bereits
mit einer dem Rollenspiel trotzenden Gestik der schrecklichen, aber professionell
korrekten Reduzierung des Filmdarstellers auf den Rollenträger.
In Altmans Film repräsentieren die
Gestalten nichts Fremdes. Die Angler Lyle Lovett und Huey Lewis, die ihre Fische
im müllfreien und ökologisch unbedenklichen Wasser fangen, lassen
sich den Freizeitspaß nicht durch die unten auf dem Grund eingeklemmte
Leiche (eine Frau! Vergewaltigungsopfer!) verderben. Die Helden bleiben die
realen Countryrockmusiker, die sie sind. Wieder ein Verstoß gegen die
Correctness?
Auf den Bühnen hat der mündige
Zuschauer sie langst erprobt: die Toleranz dem Vieldeutigen gegenüber,
die, kehrt man den altehrwürdigen linken Satz um, Indikator für eben
diese Mündigkeit ist (»Die Intoleranz dem Vieldeutigen gegenüber
ist Indikator für faschistische Tendenzen«). Sich aus dem Gleichzeitigen,
das passiert, selbst ein Programm zu machen, ist keineswegs eine Zumutung für
den Theaterbesucher, der, sagen wir, »Engel in Amerika« in Schroeters
Inszenierung sieht (Altmans nächstes Filmprojekt) oder »Kühnen
'94«, den Abend von Christoph Schlingensief. Für den Film ist das
ästhetische Verfahren, Parallelhandlungen zu verschneiden und Prozesse
der Haut-, Real- und Ideenkontakte in Gang zu bringen, noch etwas Besonders.
Auf das wir hier mit Nachdruck aufmerksam machen möchten.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: Konkret 02/1994
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Short Cuts
SHORT CUTS
USA - 1993 - 188 min. - Scope
Literaturverfilmung, Drama
FSK: ab 16; feiertagsfrei
Prädikat: besonders wertvoll
Verleih: Senator
Ufa (Video)
Erstaufführung: 6.1.1994/26.9.1994 Video
Fd-Nummer: 30588
Produktionsfirma: Avenue/Spelling/Fine Line
Produktion: Cary Brokaw
Regie: Robert Altman
Buch: Robert Altman, Frank Barhydt
Vorlage: nach Kurzgeschichten von Raymond Carver
Kamera: Walt Lloyd
Musik: Mark Isham
Schnitt: Geraldine Peroni, Suzy Elmiger
Darsteller:
Andie MacDowell (Ann Finnigan)
Bruce Davison (Howard Finnigan)
Jack Lemmon (Paul Finnigan)
Julianne Moore (Marian Wyman)
Matthew Modine (Dr. Ralph Wyman)
Anne Archer (Claire Kane)
Fred Ward (Stuart Kane)
Madeleine Stowe (Sherri Shepard)
Tom Waits (Earl Piggott)
Lily Tomlin (Doreen Piggott)
Jennifer Jason Leigh (Lois Kaiser)
Christopher Penn (Jerry Kaiser)
Lili Taylor (Honey Bush)
Robert Downey jr. (Bill Bush)
Tim Robbins (Gene Shepard)
Frances McDormand (Betty Weathers)
Peter Gallagher (Stormy Weathers)
Annie Ross (Tess Trainer)
Lori Singer (Zoe Trainer)
Lyle Lovett (Andy Bitkower)
Huey Lewis
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