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Slumdog
Millionär
Dannys
Massentanz
Der mehrfach oscargekrönte "Slumdog
Millionär" ist ein vitaler Film, der bei allem Charme mit seiner regional-spezifischen
Ästhetik kühl auf den Weltmarkt abzielt
Die Medien produzieren die Märchen
unserer Gegenwart. Papstwahl, Fußball-Weltmeisterschaft, Talent-Shows:
das populistische Sentiment entspringt demselben Gemisch aus Volkstümelei,
nationalen Mythen und Dickens’schem Sozialrealismus wie die Klassiker des Genres
– doch die Moral ist so ernüchternd wie die TV-Programme, die diese Märchen
zur Hauptsendezeit verbreiten. Ob der Frühinvalide mit Mundharmonika oder
das Prekariat auf dem Laufsteg, der Affekt ist stets derselbe: Was im Kollektiv
erfahren wird, dient der Sinnstiftung.
Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt
Danny Boyles neuer Film Slumdog
Millionär, der spätestens
seit seinen acht Oscar-Auszeichnungen im Februar ungeheuer viel Sympathie verbuchen
konnte. Doch zunehmend sind in den Jubelrezensionen auch nüchterne Töne
zu vernehmen; einigen Kritikern scheint der Erfolg dieses unverhohlenen Rührstücks
im „United-Colors-of-Benetton“-Stil nicht mehr geheuer. Tatsächlich ist
es alles andere als unproblematisch, wenn ein britischer Regisseur heutzutage
nach Indien geht, um einen bunten Film über ein paar Slumkinder zu drehen.
Andererseits will auch niemand die Rolle des Spielverderbers übernehmen,
weil gerade alle Slumdog
Millionär so sympathisch
finden und er bei den Oscars die prominente Konkurrenz deklassierte.
Danny Boyle ist ein gewiefter Filmemacher.
Er versteht das Prinzip kollektiver Sinnstiftung, auch wenn der tiefere Sinn
mitunter im Dunkeln bleibt. Und weil heutzutage Märchen nun mal vom Fernsehen
produziert werden, steht im Mittelpunkt seines Märchenfilms die indische
Variante der Quizshow Wer
wird Millionär?.
Die Allgemeinwissenssendung läuft auch in Deutschland seit Jahren mit großem
Erfolg; Elektromonteur wie Geschichtsprofessor haben die Millionenfrage beantwortet.
Im deutschen Verwaltungsfernsehen ist die Show damit eine Art demokratischer
Instanz. Ähnlich sieht es wohl auch Boyle. In Slumdog
Millionär, der auf
einem Roman von Vikas Swarup basiert, hat es der 18-jährige Jamal, ein
Waisenjunge aus den Slums von Mumbai, in die letzte Runde der Quizshow geschafft,
wo er einem schmierigen Moderator, gespielt von dem Bollywoodstar Anil Kapoor,
gegenübersitzt. Wie konnte dieser Junge aus ärmlichen Verhältnissen
nur so weit kommen? fragen sich Film und Zuschauer. Die möglichen Antworten
liefert Boyle im Stile einer Quizshow. A) Er hat geschummelt. B) Er hatte Glück.
C) Er ist eine Genie. D) Es steht im Skript.
Atemberaubendes
Tempo
Trotz solcher ironischen Volten mangelt
es Boyle bisweilen an Distanz zu seinen filmischen Ideen. Slumdog
Millionär bedient
sich relativ ungebrochen der Mittel des Bollywood-Kinos, um die Geschichte Jamals
zurückzuerzählen. Er entspannt einen attraktiven Bilderbogen von Dritte-Welt-Romantik,
Kitsch und Gewalt, überwältigenden Armut-Tableaus und empathischen
Nahaufnahmen der Kinderdarsteller. Die belebten Gassen in der Hüttensiedlung
Dharavi, dem größten Slum Asiens, Tausende von Wäscherinnen
am Ufer des Mahim, Textilien in allen erdenklichen Farben entlang der Eisenbahngleise
ausgebreitet: So oder ähnlich hat man es auch schon im National Geographic
oder in Stern-Fotostrecken gesehen.
Erzählerisch folgt Boyle weniger
den Vorgaben der Handlung, sondern dem Soundtrack des indischen Starkomponisten
A. R. Rahman. Die Bilder sind sozusagen auf die Musik geschnitten; streckenweise
stolpern sie den pulsierenden Rhythmen auch in einem atemberaubenden Tempo hinterher.
Das Wissen um die richtigen Antworten liegt in der Vergangenheit Jamals und
seines älteren Bruders Salim, die der Film Frage um Frage aufsucht. Den
Tod der Mutter durch hinduistische Fundamentalisten, das Leben auf der Straße,
das Mädchen Latika, das im Laufe der Jahre immer wieder ihren Weg kreuzt,
Salims Aufstieg zum Handlanger des lokalen Gangsterbosses, der Wandel des Groß-Slums
Bombay zur Metropole Mumbai. „Ich befinde mich im Zentrum des Zentrums,“ erzählt der jugendliche Salim seinem Bruder mit
Blick über ihren ehemaligen Slum, aus dem inzwischen Bürotürme
schießen. Von den Zentrifugalkräften dieses Wandels bleiben Figuren
wie Film weitgehend unberührt.
Der phänomenale Erfolg beim westlichen
Publikum hat den märchenhaften Modus von Slumdog
Millionär bis in
seine Rezeptionsgeschichte verlängert. Nach einer umfassenden Medien-Kampagne
im Vorfeld der Oscar-Verleihung wissen wir auch, dass die Straßenkinder,
die sich im Film selbst spielen, heute in richtigen Häusern wohnen. Anders
als die Rucksacktouristen-Schmonzette The
Beach, mit der Boyle vor
einigen Jahren den Zorn von Öko-Aktivisten auf sich zog, bringt sein neuer
Film der unterprivilegierten Bevölkerung also bescheidenen Wohlstand und
eine Zukunftsperspektive.
Der frenetische Stil des Films überspielt
dabei geschickt die einem solchen Projekt immanenten Frivolitäten, obwohl
seine seltsamen kulturellen Transfers eigentlich genügen müssten,
die farbenfrohen „Inkohärenzen“ von Slumdog
Millionär zu entlarven.
Boyles post-ironische Adaption einer Filmästhetik wie die des indischen
Bollywood-Kinos, die sich nicht zuletzt aus der Notwendigkeit einer Abgrenzung
zur eigenen Kolonialvergangenheit heraus entwickelt hatte (und damit letztlich
nichts anderes tut, als selbst Mythen, nationale, zu reproduzieren), bringt
die semiotischen Systeme zum Rotieren.
Arm,
aber sexy
Clevererweise sind bei Slumdog
Millionär solche
formale Idiosynkrasien bereits im freien Spiel der Zeichen eingebunden. Die
britisch-tamilische Sängerin M.I.A. ist ein gutes Beispiel. Ihre Songs
vermischen Elemente aus Bhangra, traditionellem Pop und Hip Hop zu einem Weltmusik-Hybriden,
der bereits das Produkt einer diasporischen Erfahrung ist. Mit Slumdog
Millionär wird diese
Musik bruchlos in Boyles Vorstellung von indischer Exotik rücküberführt
– vom Standpunkt post-kolonialer Kritik natürlich absolut blauäugig.
Als derart hochgepitchtes Ethnopop-Pastiche kann das allerdings, zugegeben,
auch verdammt sexy aussehen.
Denn den Film zeichnet bei allen Vorbehalten
eine Vitalität aus, die das aktuelle Kino mit seinen grandiosen Budgets
mehr und mehr vermissen lässt. Nur macht man es sich eben zu leicht, seinen
Außenseiter-Status als Entschuldigung vorzuschieben. Boyles Film ist ein
hochgradig kalkuliertes Produkt, die Kehrseite des „globalisierten“ Einheitsbreis,
wie Hollywood ihn seit langem generiert: ein auf den internationalen Markt zugeschnittener
Film mit einer regionalspezifischen Ästhetik. Dass aber auch Slumdog Millionär letztlich dem Diktat überholter
demoskopischer Modelle unterliegt, zeigt seine einzige Massentanz-Szene. Herz
und Seele des Bollywood-Kinos sind fast entschuldigend in den Abspann verbannt.
Sozusagen eine letzte Konzession an die alten Ökonomien Hollywoods.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Der Freitag
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Slumdog
Millionär
Großbritannien / USA 2008 - Originaltitel: Slumdog Millionaire - Regie: Danny Boyle - Darsteller: Dev Patel, Anil Kapoor, Madhur Mittal, Freida Pinto, Irrfan Khan, Saurabh Shukla, Mia Drake, Sanchita Choudhary, Ankur Vikal - FSK: ab 12 - Länge: 120 min. - Start: 19.3.2009
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