zur startseite
zum archiv
zu den essays
Snowpiercer
Der „Snowpiercer“ macht seinem Namen alle Ehre. Unaufhaltsam arbeitet
sich der Hochgeschwindigkeitszug durch den Permafrost einer ausgestorbenen Zivilisation
– halb Dampframme, halb Arche Noah. An Bord: Die Reste der Menschheit, Überlebende
eines fehlgeschlagenen Klimaexperiments, das die Erde mit einer zweiten Eiszeit
überzogen hat. Die prägende Herrschaftsform der Menschheitsgeschichte
wurde mitkonserviert: nicht top-down, wie in Science-Fiction-Dystopien üblich, sondern
front-bottom. Bong Joon-hos Spielfilm „Snowpiercer" kippt die Gesellschaftspyramide
aus Fritz Langs „Metropolis" in die Horizontale.
Am Ende des Zuges, dieses inspirierten Gesellschaftsentwurfs, hausen die „Ungewaschenen“.
Schikaniert von einer sogenannten Ministerin (Tilda Swinton als hässliche,
zur Misogynie neigende Thatcher-Karikatur) und deren Privatarmee, der Kinder
beraubt und abgefüttert mit glibberigen Proteinblöcken, warten die
Entrechteten auf ein Zeichen ihres gebrechlichen Anführers Gilliam (William
Hurt gewissermaßen als William Hurt). Der hat das Kommando längst
an einen Jüngeren abgegeben. Curtis (Chris „Captain America“ Evans) plant
zusammen mit einem Trupp Freiwilliger einen Ausbruch in die vorderen Abteile,
wo die herrschende Klasse in einer dekadenten Kunstwelt zwischen Schöner
Wohnen 2030, Studio 54 und Versailles lebt.
Bongs Film macht kaum mehr, als sich Schritt für Schritt durch
dieses reiche Szenario zu arbeiten und dabei immer bizarrere Details offenzulegen.
Wechselhaft, wie die liebevoll ausstaffierten Lebenswelten der Mächtigen
– hübsch kompartmentalisiert nach den jeweiligen Luxus-Bedürfnissen
(ein psychedelisches Aquarium-Abteil dient allein dem Sushi-Konsum) – ist auch
der Ton, den Bong dabei anschlägt. Hochgradig absurde Szenen wie der Mexican standoff
im Schulwaggon, wo die privilegierten Kinder mit dem Personenkult um den Snowpiercer-Ingenieur
Wilford und seine „Heilige Maschine“ von einer irre grinsenden Lehrerin indoktriniert
werden, wechseln sich relativ unmoderiert mit ansehnlichen Gewaltexzessen ab.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Niemand sollte von „Snowpiercer",
der auf einer französischen Graphic Novel basiert, eine profunde Gesellschaftskritik
erwarten. Dafür bleibt die Inszenierung Bongs zu sehr dem Genre treu –
während Jacques Lob, der Autor der Vorlage, den Snowpiercer ursprünglich
als Metapher für die Todeszüge in die Konzentrationslager konzipiert
hatte.
Der Film ist produktionstechnisch dennoch eine kleine Sensation, vielleicht
sogar die Lösung für die allseits proklamierte Krise der US-Filmindustrie:
eine robuste Chimäre aus Blockbusterkino und Arthousefilm, mit internationaler
Finanzierung und Besetzung – neben den Genannten stehen etwa der koreanische
Superstar Song Kang-ho als drogenabhängiger Schlüsselmeister und das
rumänische Schwergewicht Vlad Ivanov als unkaputtbarer sadistischer Abräumer
vor der Kamera. Eine Alternative zum globalisierten Unterhaltungskino aus den
US-amerikanischen Großstudios.
Nicht zu vergessen der Filmmogul klassischer Statur, Harvey Weinstein,
der dem interessanten Experiment in letzter Sekunde in die Parade fahren wollte,
weil er die Ambitionen seines Regisseurs für unvermittelbar hielt. In Deutschland
kommt „Snowpiercer" nach erbitterten Auseinandersetzungen in der ursprünglichen
Länge von 124 Minuten in die Kinos, was Bongs von linearer Erzählökonomie
befreiter Inszenierung zugute kommt. So gesehen könnte der Eisbär
am Ende (Knut!) als Geste an die von komplexer Gesellschaftskritik nicht erreichbaren
Publikumsschichten zu verstehen sein. „Snowpiercer" beschreibt ein totalitäres
System, das sich aus den Widerstandsbewegungen heraus erneuert. Wenn das mal
keine Aktualität besitzt.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: der freitag
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Snowpiercer
OT: Seolguk-yeolcha
Südkorea / Frankreich / USA 2013 - 126 min. - Regie: Bong Joon-ho - Drehbuch:
Kelly Masterson, Joon-ho Bong - Produktion: Steven Nam, Park Chan-wook, Tae-sung
Jeong - Kamera: Hong Kyung-pyo - Schnitt: Steve M. Choe - Musik: Marco Beltrami
- Verleih: MFA - FSK: ab 16 Jahre - Besetzung: Chris Evans, John Hurt, Tilda
Swinton, Jamie Bell, Ed Harris, Alison Pill, Ewen Bremner, Octavia Spencer,
Luke Pasqualino, Kang-ho Song, Steve Park - Kinostart (D): 03.04.2014
zur startseite
zum archiv
zu den essays