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Sobibor
- 14. Oktober 1943, 16 Uhr
Ein
Lebender geht vorbei
Auschwitz
ist jetzt
absolut
MEDIEN
hat zwei „Nebenflüsse“ von „Shoah“ auf einer DVD veröffentlicht
"Es
gibt zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber
dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung,
die zur toten Materie wird. Meine Filme sind Gegenmittel dazu." -
Claude Lanzmann
Selten
wohl hat ein Regisseur seine eigene Arbeit so treffend in Worte gefasst, selten
aber auch lagen Intention, Werk und dessen Wirkung so dicht beieinander, wie
im Fall der Dokumentarfilme Claude Lanzmanns. Sein monumentales Hauptwerk "Shoah",
ausschließlich aus Interviews von Überlebenden und Zeugen der Vernichtungslager,
KZ's oder Ghettos während der NS-Zeit bestehend, zeigte 1985, worum es
Lanzmann ging: Um die Erinnerung durch Sprache, durch Erzählung, entgegen
aller weithin bekannter Daten, Fakten, Bildern und entgegen einer "Ikonographie
des Grauens" (Seeßlen), die den Umgang mit dem Grauen dadurch zu
erleichtern tendieren, indem sie es in einer Sammlung von Begrifflichkeiten,
also als etwas medial und faktisch (Fotografiertes, Aktenkundiges, Registriertes)
aber dadurch auch vermeintlich tatsächlich Begriffenes darstellen. Die
Filme Lanzmanns suchen das Grauen und das Überleben des Grauens nicht in
den Archiven und Museen, sondern in der Gegenwart von Orten und Personen. In
den Kamerafahrten durch die grasüberwucherte Lade-Rampe von Auschwitz-Birkenau
und in den Worten und Gesichtern der Menschen, für die das Grauen nach
1945 nicht nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit war, sondern das sie bis zu
ihrem Tode nicht loslassen wird.
Auf
der anderen Seite gibt es die Gesichter und Berichte der Täter, Zuarbeiter
und Dulder, derer, die auch nach 1945 nicht aufgehört haben, wegzusehen,
zu verharmlosen, sich ihrer Mitverantwortung zu entziehen, das Grauen zu verdrängen.
Dazwischen immer Claude Lanzmann, mit seinen bohrenden Fragen: "Wie war
es genau? Was haben Sie gesehen? Was ist geschehen? Was haben Sie gefühlt,
gedacht? Was haben Sie getan? "
In
den intensivsten Momenten von "Shoah" meint man, Lanzmann wünschte
sich aus ganzer Kraft, dass alles ungeschehen gemacht würde, als sei eine
Rettung der Opfer, eine Umkehrung der Ereignisse noch immer möglich, ganz
so, als würde Auschwitz heute noch passieren. Und tatsächlich ist
ja Auschwitz - und dessen Möglichkeit – nie abgeschlossen, solange seine
Realität (das heißt auch seine Enstehungsbedingungen) nicht im Bewusstsein
der folgenden Generationen angekommen ist. Lanzmann ist also nicht nur ein Erinnerer
- aber vor allem ist er kein Förderer einer therapeutischen, einer zur
Heilung führenden Trauerarbeit. Im Gegenteil: Er zeigt die Wunden und zeigt
uns die Werkzeuge, mit denen sie jederzeit erneut gerissen werden können,
die Ignoranz und die Flucht vor der persönlichen Verantwortung, nicht zu
reden vom kranken, rassistischen Wahn.
Weil
nun der Film „Shoah“ mit konsequentester Bereitschaft in den fürchterlichen
Kern der Botschaft der Vernichtungslager hineinführen sollte, „die Radikalität
des Todes, die Radikalität der Vernichtung, die Unentrinnbarkeit von alledem“,
wie Lanzmann es nennt, hätten die Geschichten eines Aufstands, einer Flucht,
oder des Entkommens einiger Weniger von dieser Wahrheit abgelenkt.
Aber
es gab unter den 350 Stunden Film-Material, das sich bei den Dreharbeiten zu
„Shoah“ angesammelt hatte, auch den Bericht des Yehuda Lerner von dem einzigen
gelungenen jüdischen Aufstand, im Vernichtungslager Sobibor, und das Interview
mit einem Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes Maurice Rossel, dem
einzigen Außenstehenden, der offiziell das Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau
besuchen konnte und das „Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt besichtigen durfte.
Aus
diesen Interviews hat Lanzmann zwei eigenständige Filme gemacht: „Sobibor,
14. Oktober 1943, 16 Uhr“
und „Ein Lebender geht vorbei“. Eigenständige Filme, weil sie sich nicht
problemlos in „Shoah“ integrieren ließen, aber gleichwohl als wichtige
Ergänzungen zu verstehen waren („Nebenfluss“ von ‚Shoah’“ nennt Lanzmann
seinen „Sobibor“-Film), als exemplarische Momente der von Lanzmann unermüdlich
wiederholten Frage, was der Einzelne hätte tun können, hier also ob
und wie Widerstand in den Lagern hätte möglich sein können oder
ob die Weltöffentlichkeit schon früher von der deutschen Praxis der
Vernichtungslager und Ghettos hätte wissen können.
„Sobibor,
14. Oktober 1943, 16 Uhr“ liegt ein 1979 geführtes Interview mit Yehuda
Lerner zugrunde, dem es schon vor seiner Internierung in Sobibor gelungen war,
als damals sechzehnjähriger Junge aus acht verschiedenen Konzentrationslagern
zu auszubrechen. Lerners Schilderungen werden mit in der Gegenwart gedrehten
Bildern der Stationen auf der Odyssee seiner Deportationen erweitert, wieder
ein Beispiel für die Kunst Lanzmanns, das Vergangene und doch nicht Abgeschlossene
in der Gegenwart aufzusuchen. Die Erzählung dann vom Aufstand selbst ist
von einer derartigen Präsenz, dass man meint, dessen unmittelbarer Zeuge
zu sein. Mehr über „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ können Sie
hier lesen.
„Ein
Lebender geht vorbei“ (fertig gestellt: 1997) zeigt ein Gespräch zwischen
Lanzmann und dem Schweizer Maurice Rossel, welcher als einziger Delegierter
des Internationalen Roten Kreuzes die Gelegenheit hatte, vom Lagerleiter in
Auschwitz empfangen zu werden und Teile des KZs Auschwitz besichtigen zu können
sowie Theresienstadt zu besuchen. Rossel, der Lanzmann ursprünglich nicht
empfangen wollte, wurde mit der für Lanzmann charakteristischen und dem
Sujet überaus angemessenen Art am Ende der Dreharbeiten zu „Shoah“ 1979
überraschend in seinem Haus aufgesucht und zu diesem Interview überredet,
welches, wie man sieht, er unvorbereitet und widerwillig gibt. Rossel beschreibt,
wie er ohne große Probleme und mit jugendlicher Unbefangenheit allein
mit dem Auto nach Auschwitz gelangte und dort vom freundlichen Lagerkommandanten
(dessen Name ihm entfallen ist) empfangen wurde, sogar eine kurze Besichtigung
von Teilen des Konzentrationslagers unternehmen durfte („für den Krieg
normale Verhältnisse“), und wie er Theresienstadt, „eine normale mittlere
Kleinstadt“ (Rossel), besuchte. Dieser Besichtigung gingen tatsächlich
wochenlange Vorbereitungen voraus, sie war eine groß angelegte Inszenierung
(von einem „Potemkinschen Ghetto“ war später die Rede), von der sich Rossel
in jeder Hinsicht täuschen ließ. Erschreckend an beiden Berichten
ist, obwohl schlimm genug, weniger der Fakt der Täuschung, als Rossels
bis 1979 ungeminderte Überzeugung, er hätte wirklich nichts bemerken
können; vor allem aber seine offenbar fehlende nachträgliche Erschütterung
darüber. Kein Anflug des Selbstzweifels scheint Rossel zu berühren,
statt dessen spricht er in einer penetrant distanzierten Art stets von „Israeliten“,
während Lanzmann, der Jude, stets von den „Juden“ spricht. Erst als Lanzmann
ihn emphatisch und umfassend vor der laufenden Kamera mit den schrecklichen
Daten und Zahlen dessen konfrontiert, was er hätte zumindest erahnen können,
sehen wir einen anderen, nicht mehr selbstgefälligen Rossel, jemanden,
der mit seiner eigenen Verantwortung konfrontiert wird.
Während
„Shoah“ von der fürchterlichen Totalität der Todesmaschinerie der
Nazis handelt, sind die Filme „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender
geht vorbei“ leidenschaftliche Dokumente der Möglichkeiten des Einschreitens,
hier eines geglückten Widerstands und dort eines verantwortungslosen Wegsehens
- da, wo eine internationale Öffentlichkeit hätte hergestellt werden
können und müssen -, hier eine deklarierte Feier der Aufstands und
dort eine vehemente Anklage, beides nachhaltige Appelle an die individuelle
Verantwortlichkeit – am Ende auch die des Zuschauers.
Ich
selber habe erst vor kurzem „Shoah“ komplett gesehen und sah - noch ganz in
dessen Hoffnungslosigkeit und ohnmächtigen Wut befangen, den Film „Sobibor,
14. Oktober 1943, 16 Uhr“ mit einem Gefühl veritabler Erleichterung und
Genugtuung, mit einem Gefühl vollzogener Gerechtigkeit. Yehuda Lerner,
der vorher nicht einer Fliege etwas zu Leide getan hatte, „empfand es als Ehre,
den Schädel des Deutschen mit einer Axt in zwei Hälften zu spalten“.
Den Filmen Claude Lanzmanns ist es zu verdanken, dass wir dieses Ehrgefühl
gründlich verstehen können.
Andreas
Thomas
Sobibor,
14. Oktober
1943, 16 Uhr
(Sobibor,
14 octobre 1943, 16 heures)
Frankreich
2001
95
min
Regie:
Claude Lanzmann
Drehbuch:
Claude Lanzmann
Produzent:
Claude Lanzmann
Produktionsfirmen:
Les Films Aleph, Why Not Productions, France 2 Cinéma
Kamera:
Caroline Champetier, Dominique Chapuis
Schnitt:
Chantal Hymans, Sabine Mamou
Ton:
Bernard Aubouy, Gérard Lamps, Anne-Cécile Vergnaud
Mitwirkende:
Yehuda Lerner, Claude Lanzmann
Ein
Lebender geht vorbei
(Un
vivant qui passe)
Frankreich,
Deutschland 1997
Regie:
Claude Lanzmann
Produzent:
Claude Lanzmann
Produktionsfirmen:
La Sept-Arte, Les Films Aleph, MTM Cineteve
Kamera:
Dominique Chapuis, William Lubtchansky
Schnitt:
Sabine Mamou
Ton:
Bernard Aubouy
Mitwirkende:
Maurice Rossel, Claude Lanzmann
Beide
Filme sind seit dem 9.4.2010 bei absolut
Medien zusammen
auf einer DVD erhältlich.
DVD-Daten:
DVD
9 PAL, Farbe, 16:9 (SOBIBOR), 4:3 (EIN LEBENDER GEHT VORBEI), 95 Min. + 65 Min.,
Originalfassungen mit dt. Untertiteln. MIT BOOKLET
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