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So
finster die Nacht
Grenzerfahrungen des Zwischenmenschlichen
– Tomas Alfredsons Multi-Genre-Film kommt mit der Figur des Vampirs der Erfahrungswelt
einer Vorstadtjugend auf die Spur.
„Was glotzt Du denn so? Glotzt Du etwa
mich an?“ Zu dieser Drohung sticht Oskar mit seinem Messer auf den Baum ein,
an den er seine Worte richtet. So wird mit Travis Bickle aus Taxi
Driver (1976), dem
archetypischen Amokläufer, gleich zu Anfang ein auf filmischer Ebene reales
unter den hier vertretenen Monstern der Filmgeschichte zitiert. Bereits jetzt
ist klar, dass Oskar kein glücklicher Zwölfjähriger ist. Der
Junge, dessen Alltag von dem Mobbing seiner Klassenkameraden, vernachlässigenden
Eltern und einem morbiden Hobby bestimmt ist, lebt mit seiner geschiedenen Mutter
in der tristen Vorstadtsiedlung Blackeberg bei Stockholm.
Das Erscheinen der selbstsicheren, dominanten
Eli, eines Vampirs in Gestalt einer Zwölfjährigen, verändert
alles. Von ihr lernt Oskar schließlich, sich aus seiner Opferrolle zu
emanzipieren. Für einen kurzen Moment übt Oskar sogar Macht auf Eli
aus.
Eli wohnt nebenan mit ihrem menschlichen
Ernährer Håkan, mit dem sie in einer unklaren Beziehung lebt. Der
Film spielt mit gängigen Rollenzuschreibungen und zeigt eine gegensätzliche
Macht- und Rollenverteilung zwischen der Zwölfjährigen und dem älteren
Mann. In einer Sequenz verdeutlicht der Film Elis Position eindrücklich:
Während die Kamera Håkan beobachtet, der in sich zusammengesunken
in der Mitte des Zimmers sitzt, ist aus dem Off der scheinbar befehlsgewohnte
Ton von Elis Stimme zu hören, die – im Gegensatz zu ihrer bisherigen Erscheinung
– so gar nichts Kindliches mehr an sich hat. Håkans eingeschüchterte
Blicke in schnell wechselnde Richtungen folgen ihrer Stimme und verdeutlichen
ihre Allgegenwärtigkeit und damit ihre unabänderliche Machtposition
in dieser Beziehung.
Etablierte Vorstellungen von Beschützer
und Beschütztem, Mächtigem und Unterlegenem, Opfer und Täter
werden unterlaufen. Die Machtverteilung kennt hier keine Balance – die Entwicklung
ihrer Verschiebungen gehört zu den interessantesten Aspekten des Films.
So finster die Nacht handelt von den Barrieren zwischenmenschlicher Beziehungen,
den Risiken und Chancen der Grenzüberschreitung. Dabei stellt der Wechsel
zwischen intim wirkenden Detaileinstellungen – etwa wenn abwechselnd die Hände
Elis und Oskars gezeigt werden – und Totalen, in denen die Personen an entgegengesetzten
Bildrändern stehen, exemplarisch die Extreme von Nähe und Distanz
dar.
Der dazwischen liegende Standpunkt des
vorläufig Beobachtenden ist in So
finster die Nacht (Låt den rätte komma in) durch die häufige Rückenansicht
vor allem Oskars und durch die Blicke der Hauptfiguren in und aus den Fenstern
Blackebergs versinnbildlicht. Diese gläsernen Barrieren trennen drinnen
von draußen, Fremde und Einheimische und werden zum dominanten Motiv des
Films, dessen Originaltitel wörtlich übersetzt Lass
den Richtigen herein lautet.
Wenn Eli und Oskar sich durch das Fenster in der Wohnzimmertür ansehen
und die Handflächen synchron auf das Glas legen, erreicht dieses Motiv
mit seinen gegensätzlichen Implikationen – Angst und Wunsch nach Zugehörigkeit
auf Seiten Elis, Risikobereitschaft und Selbstschutz auf Seiten Oskars – seinen
stärksten Ausdruck.
Regisseur Tomas Alfredson inszeniert seine
Adaption von John A. Lindqvists gleichnamigem Roman entlang mehrerer Genres.
Er bedient sich der Figuren des Coming-of-age Films und der Dramaturgie des
Liebesfilms, vor allem aber der durch die Populärkultur vermittelten Mythologie
des Vampirismus. Dabei zielt er nicht in erster Linie auf dessen Horrorwirkung.
Vielmehr bildet die Figur des Grenzwesens in ihren vielen Widersprüchen
typisch jugendliche Befindlichkeiten ab. Und zugleich bietet sie ganz traditionell
eine Projektionsfläche für die Beziehung von Herrschaft und Knechtschaft.
Nadja Ben Khelifa
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: www.critic.de
So
finster die Nacht
Schweden 2008 - Originaltitel: Låt den rätte komma in - Regie: Tomas Alfredson - Darsteller: Kåre Hedebrant, Lina Leandersson, Per Ragnar, Henrik Dahl, Karin Bergquist, Peter Carlberg, Ika Nord, Mikael Rahm - Länge: 114 min. - Start: 23.12.2008
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