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Sonnwende
Eine Schülerin läuft mitten im Abi-Stress auf der Landstraße
einer Kleinstadt vor ein Auto. Sie kommt am frühen Morgen von einer Party,
die von Gleichaltrigen irgendwo zwischen Wald und Wiese mit selbst mitgebrachten
Getränken improvisiert wurde. Bis auf ein paar blaue Flecken scheint sie
den Unfall schnell zu vergessen. Einige gewagt geschnittene Rückblenden
und zukünftige Vorwegnahmen weiter ist sie ein schlafloses Nervenbündel,
geplagt von scheinbar grundlosen Panikattacken, Weinkrämpfen und einem
starken Drang zu Selbstisolation. Den Freund lässt sie links liegen, die
letzten Prüfungen schwänzt sie, die Eltern stößt sie mit
ihren distanzierten Abnabelungsversuchen vor den Kopf. Nur ihre beste Freundin,
die in einem Logistikunternehmen an der schlecht bezahlten Arbeit leidet, scheint
etwas von ihrem inneren Kollaps zu ahnen.
Dazwischen sorgt eine überstrapazierte Häppchen-Dramaturgie
für bemüht avantgardistische Irritation. Mal wähnt man sich in
einem Mystery-Thriller, mal in der Studie einer Psychose à la Polanskis
„Ekel“ (fd 13 553). Die Zeitstrukturen zerbröseln, manche
Szenen wiederholen sich wie in einer Endlosschleife. Die traurig mädchenhaften
Elektro-Klagelieder überdecken unheilvoll die warm getönten Sommerbilder,
hinter denen die Vergänglichkeit der Adoleszenz lauert. Zum Glück
wird das von jungen Regisseuren inzwischen leidlich inflationär gewählte
Thema der Mittelstandsfrau in psychischer Krise von der ätherisch ausdrucksstarken
Roxane Duran getragen, die schon in „Das weiße Band“
(fd 39 527) und der jüngsten „Michael Kohlhaas“-Verfilmung (fd 41 892)
an der Seite von Mads Mikkelsen souverän auf sich aufmerksam machte. Ihrem
intensiven Spiel schaut man gerne zu, nicht ohne sich dabei über das umständliche
Procedere zu wundern, mit dem das Drehbuch den Grund für die unter der
Dusche, im Kegelclub und beim Kleiderkauf schwellende Neurose samt Gedächtnisverlust
hinauszögert.
Irgendwann ist es dann endlich doch raus. War doch gar nicht so schwer! Aber der Film interessiert sich nur vordergründig für die Symptome einer posttraumatischen Störung, die er als solche erst kurz vor dem Abspann benennt. Die Kamera weidet sich an goldenen Kornfeldern in Panorama-Ausmaßen, an schönen jungen Menschen in Bewegung, an verlorener Unbeschwertheit und der filigranen Komposition des dürftigen Plots. Eine elegische Glasglocken-Etüde, die letztlich auch ohne das penetrant gehütete Geheimnis auskommen würde. Viel Schwebeakrobatik um nichts.
Alexandra Wach
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film Dienst 25/2013
Sonnwende
Deutschland 2013 - Produktionsfirma: Heimatfilm/WDR/MDR - Produktion: Matthias
Krause - Regie: Bernhard Landen, Judith Angerbauer - Buch: Judith Angerbauer
- Kamera: Torsten Lippstock - Musik: Annette Weller, Boris Meinhold - Schnitt:
Florian Miosge - Darsteller: Roxane Duran (Anja), Lisa Reuter (Nicole), Piet
Fuchs (Rolf Roschinski), Conrad Risch (Bene), Roland Sapper (Prüfer), Julia
Holmes (Frau), Alexander Koll (Polizist), Christian Michael (Alfred Gross),
Elmira Rafiazadeh (Krankenschwester), Christine Kättner (Inge Roschinski)
- Länge: 84 Minuten - Verleih: Zorro - Start (D): 12.12.2013
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