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Son of Saul
Herbst 1944. Der ungarische Jude Saul Ausländer ist Teil des Sonderkommandos im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, einer Spezialeinheit von Häftlingen, die von den Nazis gezwungen werden, die Massenmorde in den Gaskammern durchzuführen und sich anschließend um die Entsorgung der Leichen zu bekümmern. Für diese Tätigkeit wurden die Mitglieder des Sonderkommandos mit einer vergleichsweise guten Versorgung und einem erfahrungsgemäß etwa viermonatigen Aufschub der eigenen Vernichtung »belohnt«. Am 8. Oktober 1944 kam es zu einem Aufstand des Sonderkommandos, bei dem zumindest ein Krematorium zerstört wurde. Keiner der ungefähr 450 Beteiligten hat den Aufstand überlebt. Davon erzählt „Son of Saul“. Auch, gewissermaßen am Rande. Der Film von László Nemes, der als Assistent von Béla Tarr an „Der Mann aus London“ (fd 39 570) mitwirkte, erzählt ebenfalls die Geschichte von Saul Ausländer, der Zeuge wird, wie ein Junge die Gaskammer überlebt, von einem deutschen Arzt eigenhändig getötet und zur Obduktion geschickt wird. Saul ist von dem Gedanken besessen, diesem Jungen ein rituelles Begräbnis zu verschaffen und beginnt unter den Häftlingen nach einem Rabbi zu suchen, der das Kaddisch beten kann.
Das ist die narrative Grundkonstruktion eines filmischen Experiments,
das auf der Höhe der aktuellen Diskussion um ethische Fragen der Darstellung
der Shoah sich daran abarbeitet, einer mythischen Konzeption von Vergangenheit
durch eine »konventionelle« Helden- oder Survival-Geschichte zu
entgehen. Die überlieferten Zeugnisse von Mitgliedern des Sonderkommandos
böten, so Nemes, Material über die »normalen« industriellen
Abläufe eines Vernichtungslagers zwischen der Ankunft der Züge und
dem Verstreuen der Asche in der Weichsel. Das Ungeheuerliche dieses Ansatzes
sollte unter Verzicht auf jede Form des Melodramatischen durch eine möglichst
einfache Geschichte und durch äußerste formale Konsequenz gelingen.
So die Absicht, bei der die Idee der Bestattung des Leichnams des Jungen als
eine Art MacGuffin fungiert, um die Figur Saul Ausländer kreuz und quer
durchs Lager zu schicken, vorbei an den Gaskammern und Krematorien, den Massenerschießungen
im Wald oder am Flußufer der Weichsel. Weil die Kamera sich extrem nah
an den Protagonisten hält, dem das Überleben in dieser anarchischen,
menschenverachtenden Hölle zur Routine geworden ist, bleibt wenig Platz
für spektakuläre, weil immer etwas unscharfe Blicke, aber reichlich
Raum für eine meisterhaft komponierte Tonspur voller Geräusche, Gesprächsfetzen
und Befehle. Eine sonische Tortur!
Durch den störrischen Eigensinn, mit dem Saul Ausländer,
glänzend stoisch gespielt von Géza Röhrig, seinen Plan verfolgt,
gefährdet er mehr als einmal die parallel sich entwickelnden Pläne
des Aufstands. Er scheint bereit, viele Leben für einen Toten zu opfern,
wobei das Setting des Vernichtungslagers, in dem die Mitglieder der Sonderkommandos
gleichzeitig Täter und Opfer, Zeugen und Todgeweihte sind, beiden Plänen
unter den Bedingungen „absoluter Macht“ (Wolfgang Sofsky) genuine Züge
des Absurden verleiht.
Es mag seltsam klingen, aber durch die singuläre Tat Ausländers
wie auch durch den Aufstand im Vernichtungslager gelten die Gedanken des Zuschauers
weniger dem Zivilisationsbruch als vielmehr den Strategien der Häftlinge,
inmitten der Hölle etwas Sinnvolles zu tun (einen Jungen anständig
begraben, ein Foto aus dem Lager schmuggeln, einen Aufstand wagen) und gerade
dadurch Humanität zu bezeugen.
Wie Georges Didi-Huberman in seiner Studie „Bilder trotz allem“, als
dessen Verfilmung man „Son of Saul“ durchaus bezeichnen könnte, formuliert:
„Diesem allen ein Bild entreißen? Trotz allem? Ja. Es galt, diesem Unvorstellbaren
um jeden Preis eine Form zu geben. Die Aussichten, zu fliehen oder sich aufzulehnen,
waren in Auschwitz so gering, dass das einfache Aussenden eines Bildes oder
einer Information – eines Plans, einiger Ziffern oder Namen – zur größten
Dringlichkeit wurde, eine der letzten Gesten der Humanität.“
Indem Nemes’ Film einen Gedanken von Primo Levi aufgreift, demzufolge die Arbeit des Sonderkommandos nur zu leisten war, in dem man sie als Arbeit begriff, wäre zu diskutieren, inwieweit die Simplizität der Erzählung von „Son of Saul“ aus Komplizen – zum Einsatz in Sonderkommandos meldete man sich – Handlanger macht. Das ist gewissermaßen die Kehrseite der hektischen Aktivitäten vor der Kamera, dass die atemlose Konzentration auf den Moment sich nicht entscheiden muss, den Kontext in den Blick zu nehmen. Das Physische obsiegt das Psychologische.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Filmdienst 5/2016
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Son of Saul
(Saul fia) - Ungarn 2015 - 107 Min. - Start(D): 10.03.2016 - FSK: ab 16 Jahre
- Regie: László Nemes - Drehbuch: Clara Royer, László
Nemes - Produktion: Gábor Rajna, Gábor Sipos - Kamera: Mátyás
Erdély - Schnitt: Matthieu Taponier - Musik: László Melis
- Darsteller: Géza Röhrig, Levente Molnár, Urs Rechn, Todd
Charmont, Kamil Dobrowolski, Björn Freiberg, Attila Fritz, Christian Harting,
Uwe Lauer, Sándor Zsótér, Jerzy Walczak, Gergö Farkas,
Balázs Farkas, Marcin Czarnik, Levente Orbán, Mihály Kormos
- Verleih: Sony Pictures Germany
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