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Spur
der Steine
Wie
verspielt die Partei die Macht?
1965 gedreht, diskutiert, abgesetzt,
1990, als alles vorbei ist, gezeigt: Frank Beyers DEFA-Film »Spur der
Steine«
DDR, Mai 1965, Außenaufnahmen im
Kombinat Schwedt und in Leuna. Manfred Krug, damals 28 Jahre alt, spielt den
Brigadier Balla. Die aufrechten Sieben von der Zimmermannsbrigade brauchen die
volle Breite der Straße. Ein demonstrativer Einmarsch. Das Bildformat
– Totalvision, schwarzweiß – ist voll genutzt. So treten die glorreichen
Sieben im Cinemascopebild des Western auf; die Zimmermannskluft erscheint als
Variante des Westernkostüms, und die Großbaustelle des Industriekombinats
ist nicht minder wüst wie die Steppen des fernen Westens. Auch erkennen
wir das Männerpathos des Westernfilms wieder; Balla und seine Brigade tun,
was Männer tun müssen. Zum Beispiel nackt, aber mit genug Bier im
Bauch, in einen See springen, vor einem voll besetzten Cafe, und den uniformierten
Offizier der Volkspolizei ins Wasser kippen, eine grobe Disziplinlosigkeit.
Oder ist bereits der Film selbst, der, jedenfalls in seinem ersten Teil, sich
einer der DEFA bis dahin fremden Ästhetik bedient, eine grobe Disziplinlosigkeit?
Nachdem nach Schluß der Dreharbeiten, im Dezember 1965, das 11. Plenum
des ZK der SED getagt hatte, war die Antwort ein dogmatisch begründetes
Ja, und »Spur der Steine« verschwand – nach wenigen Aufführungen
im Sommer 1966 – zusammen mit fast der ganzen Jahresfilmproduktion der DDR im
Keller.
Ein Vierteljahrhundert später läuft
»Spur der Steine« im Kino, ungealtert, unversehrt und hochwillkommen,
weil er eine Diskussion anstößt, die gesellschaftlich längst
hätte geführt werden müssen, die aber in der DDR, in der es diesen
exemplarischen Film gibt, nicht öffentlich war und in der Bundesrepublik
nicht vorkam, weil es einen solch exemplarischen Film hier eben nicht gegeben
hat. – Am Anfang provoziert Balla, der Sympathieträger, Fragen. Die Brigade
kapert Kieslaster, die auf dem Weg zu einer anderen Großbaustelle sind,
und dirigiert sie zur eigenen Arbeitsstelle um, dem Rückkühlwerk.
Ist das nun eine vernünftige Initiative, weil die eigene Bauleitung unfähig
und der Plan fehlerhaft ist? Nach der Aktion kommt die Reflektion, und der Film
ändert sein Gesicht. Brigadier Balla, der nicht in der Partei ist, setzt
sich mit Horrath, dem Parteisekretär, der nicht orthodox ist, auseinander
– auch mit der Bauingenieurin Kati, die Liebe braucht und die Partei schädigt,
weil das Dreiecksverhältnis gegen die sozialistische Moral verstößt.
Kati ist die einzige, die schließlich die Baustelle verläßt:
»Ich will neu anfangen! Ich habe es satt, mir selbst leid zu tun!«. Balla schwört der Brachialgewalt (»Mit
dem Stuhlbein diskutiert es sich leichter ! «)
ab und läutert sich zum bewußt sozialistischen Arbeiter, und über
Parteisekretär Horrath, vorschriftswidrig dem außerparteilichen Dreieck
verbunden, sitzt die Parteileitung unter dem Vorsitz des gütigen und verständnisvollen
Bezirksparteisekretärs Jansen zu Gericht: Ausschluß oder nicht?
Auf der großen Leinwand stellt sich
schon bald nichts mehr zur Schau, keine Brigade quer über die Straße,
keine Totale auf die Großbaustelle. Wir sitzen stattdessen in engen, niedrigen
Räumen an Tischen, Tischen, Tischen. Stets aber am äußersten
Ende, das längs in den Vordergrund geschoben ist, subjektiv über die
Leinwand hinaus an den Zuschauerplatz. Selbstredend kann es auch ein Tresen
sein – mit einem Glas Salzstangen ganz im Vordergrund. Meist liegen jedoch Akten
auf dem Tisch, und der Zuschauer wird Augen- und Ohrenzeuge von Parteileitungs-
und anderen Sitzungen, von denen eine auf die andere folgt und die zum erstenmal
durchsichtig und öffentlich werden. Die Kamera verzichtet auf Finessen,
Dunkelzonen und Ausleuchtungen, sie dokumentiert ohne jede Aufregung eine Sitzung,
in der offen die offenen Fragen der Republik zur Sprache kommen. Regisseur Frank
Beyer, damals 33, hat Schluß gemacht »mit einer verlogenen Kamera-
und Beleuchtungsschule, die die Ufa der DDR hinterlassen hat« (Beyer,
1960). Vielleicht ist es diese Klarheit und Durchlässigkeit, die den Film
heute aufregend, der Vernunft zugänglich macht. Wie würden Sie entscheiden?
Die Ausschlußsitzung ist in »Spur der Steine« Rahmenhandlung,
aus der Rückblenden in die Geschichte des Dreiecks Balla - Horrath Kati
zurückführen: Inaugenscheinnahme, Beweisstücke auf dem Verhandlungstisch.
Zum Schluß des Films zerreißt Bezirksparteisekretär Jansen
zur großen Erleichterung des Zuschauers die Ausschließungsurkunde
gegen den Parteisekretär Horrath, auch wenn dieser nachgewiesenermaßen
gefehlt und gesündigt hat. Und da Parteifunktionär Jansen ja keine
fiktive Figur war, sondern in dem Bezirksparteisekretär Bernhard Koenen
aus Halle sein reales Vorbild hatte, war zum guten Ende die Welt wieder in Ordnung,
und die Partei hatte recht.
Aber es war zu viel auf den Tisch gekommen,
und die subjektiv plazierte Kamera suggerierte, daß der Zuschauer damit
befaßt werden sollte, gesellschaftliche Probleme zur Kenntnis zu nehmen,
gar darüber zu entscheiden. Dem steuerte nach einigem Hin und Her das offizielle
Verständnis des Films als verordnete (»kommandierte«) Lebenshilfe-Frage:
Jemand wie Balla, ausgezeichneter Aktivist, der aber streikt, wenn die lasche
Bauleitung das Schalholz nicht rechtzeitig beschafft, – grenzt man den aus (»Daraus
haben Faschisten ihre Helden gemacht«) oder macht man ihn zum Verbündeten
(»Wir brauchen Leute wie Balla«)? Und stellt man diese Frage, weil
man Planfetischist ist oder sonst ein Ideal hat (»haben auch die Nazis
gehabt«)? Worum gehts bei der Frage, ob man so etwas wie den Brigadier
Balla isoliert oder nicht? Darum, ob man dabei »die Macht verspielt oder
nicht«, sagt der Parteisekretär von 1965. Soll man das, was Mitte
der sechziger Jahre zur Entfremdung führt, zu Gunsten eines reinen Bildes
des sozialistischen Fortschrittes ausblenden? Oder nicht? Der Film spricht sich
dagegen aus. Er registriert, was stört. Das Fernsehprogramm? »Schalt
um!«. – Ein Ritterkreuzträger von
damals? Ein Arschkriecher von heute! – Warum gehst Du nicht rüber? Um hier
das Vernünftige durchzusetzen (und das ist schwer rückgängig
zu machen)! – Sozialistische Moral (»Anfälliger Lebenswandel indiziert
anfällige Prinzipientreue«)? Heilsarmee-Moral! – Den Werkschutz rufen,
wenn einer die Initiative ergreift? »Laß uns doch alle abführen!«
Der Mief, der sich in den sechziger Jahren
in der DDR zu bilden beginnt, weil es an Lüftung fehlt, hier bläst
ihn ein Film weg, ein Balla, der Flegel, mitten in Berlin, in Gegenwart des
Ministers. Balla versucht, sich an Sprachrituale zu halten. Er schafft es nicht.
Dafür setzt er gegenüber seiner Brigade und den Kumpels das Dreischichtensystem
durch. Aber wenn er seine Rede einübt, »Hochgeschätzter Herr
Minister, Hochwohlgeboren«, endet er bei »Hochwürden«,
und wenn er so etwas Naheliegendes, aber Unvorhergesehenes erwähnt wie
das, was im Plan nicht bedacht ist, daß nämlich das Dreischichtensystem
dem Arbeiter weniger Geld einbringt, dann hat das nicht im Manuskript gestanden,
sondern ist der freien Rede geschuldet.
Die freie Rede der »Spur der Steine«
führte schließlich dazu, daß der Film der Abgrenzungskampagne
gegen »Abweichungen«, die das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember
1965 beschlossen hatte, zum Opfer fiel. Freilich zog sich der Streit ein halbes
Jahr hin, bis das Verdikt endgültig war. Denn der Roman von Erich Neutsch,
den Frank Beyer mit »Spur der Steine« verfilmt hatte, war in zwei
Jahren zum Bestseller geworden (9 Auflagen) und hatte dem Autor einen Nationalpreis
eingebracht. Das Drehbuch hatte Beyer, schon damals mit dem Buchenwald-Film
»Nackt unter Wölfen« und der gesellschaftlichen Komödie
»Karbid und Sauerampfer« einer der talentiertesten und gesellschaftlich
höchst geachteten jüngeren DEFA-Regisseure, zusammen mit Karl-Georg
Egel, gleichfalls Nationalpreisträger, geschrieben. Dabei war durch die
Rahmenhandlung (die Sitzung über den Parteiausschluß) die Rolle des
menschlich integren, verständnisvollen und gerechten Parteifunktionärs
Jansen weiter aufgewertet worden. – Die Jugendausschreitungen vom Herbst 1965
hatten die Partei jedoch ängstlich gemacht. Offenbar fürchtete sie,
daß sich die aufmüpfigen Bürger mit der Figur des damals schon
populären, aber sich anarchistisch gebärdenden Manfred Krug identifizieren
könnten. Bereits Ende November 1965 ergingen in der Sorge, der Film der
DDR vernachlässige seine Aufgabe als »Lebenshilfe«, Anweisungen,
denen zufolge die »freizügige« Darstellung sexueller Themen
»nicht mehr zulässig« war; auch wurde die Darstellung von »Entfremdung«
beanstandet, weil sie der sozialistischen Gesellschaft in der damaligen Periode
ihres Aufbaus unbekannt sei. Zwischen Beyer und der neu eingesetzten Studioleitung
in Babelsberg entbrannte daraufhin ein monatelanger Kampf um Schnitte sogenannter
freizügiger Stellen, der zur Kürzung des Films um dreißig Minuten
führte. (Die ostentative Keuschheit, die daher im Dreiecksverhältnis
obwaltet, ist heute der einzige Schwachpunkt des Films). Lediglich die Nacktbadeszene,
an der keine Frau beteiligt ist, wohl aber ein uniformierter Polizist, blieb
jedenfalls in der Schlußfassung erhalten.
Die Tabuisierung der Freizügigkeit
war jedoch nur vorgeschoben. Letztlich ging es um das Thema, das »Spur
der Steine« selbst angeschlagen und diskutiert hatte: Wie behält
die Partei die Macht? Wie verspielt sie sie? Die Parteiführung meldete
sich im Dezember 1965 selbst zu Wort. Erich Honecker griff in dem von ihm auf
der Eröffnungssitzung des 11. ZK-Plenums gegebenen Bericht des Politbüros
die Position der in diesen Filmen angeblich über der sozialistischen Gesellschaft
stehenden »Beobachter« an, die, indem sie Fehler und Schwächen
der DDR-Gesellschaft registrierten, die Position der Feinde des Sozialismus
vertreten würden. Kurt Hager brandmarkte die Darstellung der »Entfremdung«
zwischen Individuum und Gesellschaft als Kafka-Imitation, die gegen den Sozialismus
und seine Lebenswirklichkeit gerichtet sei. Und Walter Ulbricht wandte sich
auf dem Plenum (veröffentlicht am 19. Dezember 1965 im »Neuen Deutschland«)
gegen die Meinung, daß man solche Filme zeigen müsse, um sie zur
allgemeinen Diskussion zu stellen und damit freie Meinungsäußerung
zu ermöglichen. Erziehung der Jugend durch diese Filme? Das Politbüro
sage dazu Nein. – Denn diese Diskussion zuzulassen, so formulierte es Hermann
Axen, bedeute »erst das Volk vergiften und dann das Gift wieder rausziehen«.
Die Diskussionen, die in »Spur der
Steine« geführt werden, gingen wie selbstverständlich in die
Diskussionen der sozialistischen Wirklichkeit des Jahres 1966 über – mit
dem Unterschied, daß diese eben nicht öffentlich werden sollten.
Es spricht für die SED, daß sie zur Meinungsbildung ein halbes Jahr
intensiver Diskussion brauchte. Noch im Mai 1966 empfahl der neu gegründete
künstlerische Beirat der Hauptverwaltung Film des Ministeriums für
Kultur »die baldige Aufführung dieses Werks«, wobei über
die künstlerische Darstellung der Rolle der Partei der Arbeiterklasse künftig
aber »Beratung« erforderlich sei. Auch das »Neue Deutschland«
registrierte die Uraufführung des Films, die am 15. Juni 1966 als Auftakt
der 8. Arbeiterfestspiele in Babelsberg stattfand, positiv. Am 28. Juni, vor
der Berliner Premiere, beschloß das ZK des Sekretariats der SED jedoch,
den Film zurückzuziehen. Die Begründung war am 6. Juli im »Neuen
Deutschland« nachzulesen. Unter dem Pseudonym Hans Konrad – es sind die
Initialen des »ND«-Kritikers Horst Knietzsch – wurde kritisiert,
daß der Film »Spur der Steine« »ein verzerrtes Bild
von unserer sozialistischen Wirklichkeit, dem Kampf der Arbeiterklasse, ihrer
ruhmreichen Partei und dem aufopferungsvollen Wirken ihrer Mitglieder gebe«
. – Das war eine Beurteilung, für die ein real existierender Kritiker seinen
Namen nicht hergeben mochte.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 07/1990
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Spur der Steine
DDR 1966
Start: 10.09.1990 (BRD)
Laufzeit:129 min.
Drehbuch: Frank Beyer, Karl-Georg Egel, nach dem Roman
von Erik Neutsch
Regie: Frank Beyer
Darsteller: Manfred Krug, Krystyna Stypulkowska, Eberhard
Esche, Johannes Wieke, Walter Richter-Reinick, Hans-Peter Minetti, Walter Jupé,
Ingeborg Schumacher, Gertrud Brendler , Helga Göring, Erich Mirek, Karl
Brenk, Helmut Schreiber, Fred Ludwig, Hans-Peter Reinicke, Detlef Eisner
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