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Stadt Land Fluss
Landluft macht frei (wenn etwas Stadtluft hinzu kommt).
Man bemängelt ja häufig und häufig auch
nicht ganz zu Unrecht, dass die Milieuschilderung in Spielfilmen zumeist nur
während der Exposition wichtig genommen wird und später im Verlauf
der Handlung bestenfalls noch zeichenhaft verdichtet eine Rolle spielt. Haben
sich die Protagonisten erstmal als solche etabliert, spielen sie ihre Geschichte
vor einem »Hintergrund« herunter. Bei seinem ausgesprochen schönen
Spielfilmdebüt wählt Benjamin Cantu einen radikal anderen Weg, indem
er den »Hintergrund« nicht mehr zum »Hintergrund« degradiert,
sondern diesen mit dokumentarischen Mitteln in großem Maßstab ausmalt.
„Stadt Land Fluss“ spielt zur hochsommerlichen Erntezeit
auf einem größeren Landwirtschaftsbetrieb im Brandenburgischen. Hier
werden junge Menschen zum Landwirt ausgebildet oder absolvieren ein orientierendes
Praktikum. Wir sehen Menschen arbeiten, an der Möhrenwaschanlage, am Traktor
oder im noch nicht sehr souveränen Umgang mit dem Vieh. Wir werden von
Kühen angeglotzt und sehen, wie Menschen über den Hof gehen, sich
etwas Zeit nehmen. Wir sitzen mit im Frühstücksraum und werden Zeuge,
wie ein Vanillepudding verschenkt wird. Es nicht so viel geredet - und wenn
geredet wird, reden gerne die Ausbilder.
Ein Neuer ist angekommen: Jacob hat eine Banklehre abgebrochen, weil sie ihm
nicht das Richtige erschien. Als er erzählt, was er im ersten Lehrjahr
verdient hätte, staunen die anderen Anwesenden nicht schlecht. Tja, in
der Produktion verdient man nicht so viel, erklärt Frau Thymian. Die wohl
wirklich so heißt, denn das Team von „Stadt Land Fluss“ tauchte nicht
nur im Erntebetrieb gewissermaßen unter, sondern ließ auch nur zwei
Schauspieler vor die Kamera. Alle anderen sind Laien, die sich selbst spielen
- und auch mal grinsen müssen, wenn die Kamera läuft. Oder lieber
bockig vor sich hinstarren, um nicht grinsen zu müssen.
Eine ganze Zeit lang könnte „Stadt Land Fluss“ auch eine Dokumentation
über den Alltag in der Landwirtschaft sein, dann entwickelt sich eine spröde,
tastende Liebesgeschichte zwischen Jacob und dem sehr zurückhaltenden Marko,
dessen problematischer familiärer Hintergrund gerade einmal hingetuscht
wird. Marko ist sehr ruhig, mit sich beschäftigt und absolviert gerade
eine Ausbildung zum Landwirt, weiß aber nicht mit Bestimmtheit zu sagen,
ob er das auch wirklich will. Das ist nun aber wirklich ein Problem, wird ihm
geantwortet.
Okay, aber wenn man den Blick in Jänickendorf so schweifen lässt (und
dazu lädt der Film nachdrücklich ein!), dann drängen sich nicht
allzu viele Alternativen auf. Aus dem ruhigen Fluss von Impressionen schält
sich nun ganz allmählich die Geschichte von Jacob und Marco heraus: erst
ist es noch ein neugieriges Taxieren, ein Wahrnehmen von Körpern, ein Kräftemessen,
ein Sich-Annähern, das zur Jahreszeit passt, aber irgendwie nicht zum Kuhscheiße-Schippen
im Stall. Es braucht dann aber doch noch einen gemeinsamen Ausflug nach Berlin,
bis sich die beiden Jungen aufeinander einlassen können. Noch nicht bedenkenlos,
aber schon etwas euphorisch (und etwas betrunken). Liegt es am Zauber der sommerlichen
Nacht in der bunten Metropole?
Es geht dann wieder zurück nach Jänickendorf, wo sie zurück in
den Alltag müssen. Was Marko kurz zu irritieren scheint. Doch ganz so prosaisch
will es der Film dann doch nicht ausklingen lassen: am Ende hat Marko seine
Prüfung bestanden. Zu seiner ungewissen Zukunft gratuliert ihm Jacob mit
einer langen und eigentlich unmissverständlichen Umarmung. Mal sehen, was
die anderen dazu sagen.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: www.filmgazette.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Stadt Land Fluss
Deutschland 2011 - Regie: Benjamin Cantu
- Darsteller: Lukas Steltner, Kai-Michael Müller, Cristina Do Rego, Burkhard
Donath, Sabine Gilewski, Michael Hahn, Karl Hegener, Christine Hillner, Ursula
Jannasch - FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge: 84 min. - Start:
19.5.2011
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