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Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
Die Anwesenheit der Toten
Boonmee, Tong und Jen sitzen beim Abendessen auf der Veranda.
Um sie herum ist tiefschwarze Nacht; eine Lampe bestrahlt den Tisch, die Schüsseln
und die Speisen, die Figuren auf ihren Stühlen und das Astwerk jenseits
der hölzernen Balustrade. Boonmee (Thanapat Saisaymar) hat ein Nierenleiden und wird bald sterben; seine Schwester Jen
(Jenjira Pongpas) ist aus Bangkok zu Besuch gekommen, um sich zu verabschieden.
Tong (Sakda Kaewbuadee) ist ein Freund der Familie. Aus dem Nichts taucht am
Tisch eine vierte Figur auf, eine Frau, oder besser: ein halb durchsichtiges
Schemen, das auf einem freien Stuhl mehr erscheint denn Platz nimmt. Einen Schnitt
später sitzt sie im Off, die Kamera schaut in die staunenden Gesichter
von Boonmee, Jen und Tong. Als die Frau, nach einem weiteren Schnitt,
wieder onscreen ist, hat sie zwar etwas mehr von der Körperlichkeit,
die die anderen Figuren selbstverständlich besitzen. Aber noch immer sieht
sie aus, als sei sie nicht ganz von dieser Welt.
Was denn für Dinge?
Und genau das ist der Fall. Huay (Natthakarn Aphaiwonk) starb vor vielen Jahren; Boonmee ist
ihr Witwer. Die drei Lebenden gewöhnen sich rasch an die Anwesenheit der
Toten. Sie handeln so, als wäre daran nichts Wunderliches. Eine Totale
auf eine hügelige Dschungellandschaft und eine nähere Einstellung
auf ein Waldstück punktieren die Szene; danach steht die Kamera wieder
auf der Veranda; der Tisch liegt nun in ihrem Rücken, vor ihr führt
die Treppe herab ins Erdgeschoss. Als reichte ein Geist am Tisch nicht, kommt
nun ein mannsgroßer Affe die Treppe hoch; seine Augen leuchten rot, sein
Fell hängt in dichten schwarzen Zotteln an ihm herab, zur Begrüßung
sagt er, er sei Boonson, Boonmees Sohn. "Es sind viele Dinge dort draußen",
warnt er. "Was denn für Dinge?", will Boonmee wissen.
"Seelen und hungrige Tiere. Sie spüren deine Krankheit."
Wenn man im Kino etwas akzeptiert, was naturwissenschaftlichen
Gesetzen zuwiderläuft, spricht man von "suspension
of disbelief", dem Aussetzen der Ungläubigkeit. Der thailändische
Regisseur Apichatpong Weerasethakul bringt sein Publikum in seinem jüngsten, in Cannes
mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film "Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" immer wieder dazu,
die Ungläubigkeit aufzugeben, und er tut dies auf eine Weise, dass man
sie bereitwillig, ja, gierig aufgibt. Zugleich schaut er den Figuren zu, wie
sie zögern, bevor sie sich den neuen, übernatürlichen Gegebenheiten
dann doch mit großer Selbstverständlichkeit überlassen. Einige
Szenen nach der ersten Geistererscheinung zum Beispiel sitzt Huay am Bett
Boonmees und führt liebevoll die Dialyse durch, ihre Gestalt
hat noch immer etwas leicht Unwirkliches (Weerasethakul drehte die
entsprechenden Szenen, indem er einen Spiegel benutzte, die Huay, die im
Bild erscheint, ist also eine Reflexion ihrer selbst). Die Eheleute reden über
den Tod. "Nachdem ich gestorben bin, wohin soll mein Geist gehen? Wird
es mich zu dir führen? Kommt man in den Himmel?", sorgt sich Boonmee. Huay entgegnet: "Der Himmel ist überschätzt.
Da ist nichts. Geister sind nicht mit Orten verknüpft, sondern mit Menschen."
Man sieht und hört das und denkt in keinem Augenblick:
Was ein Unsinn, eine Tote, die mit einem Lebenden spricht. Man sieht und hört
es und denkt: Was ein wunderbarer Trost, mit jemandem zu reden, der die Erfahrung
zu sterben gemacht hat und der überdies noch eine den Tod überdauernde
Beziehung in Aussicht stellt.
Wenn es zu den Fähigkeiten des Kinos gehört,
für die Übergangssituationen des Lebens zu wappnen und durch sie hindurchzuführen,
dann ist "Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" dafür
ein besonders schönes Beispiel. Das hat nichts mit Esoterik und nur begrenzt
mit fernöstlicher Spiritualität zu tun, vielmehr liegt es daran, dass
Weerasethakul sein Publikum an einen Punkt bringt, an dem es spürt
und akzeptiert: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als es die Schulweisheit
träumen lässt. Er hilft zu erkennen, dass der Verstand Grenzen hat.
Diese Grenzen müssen kein Grund für Angst und Sorge sein, im Gegenteil.
Indem Weerasethakul die Wunder so sanft und selbstverständlich in Szene
setzt, versöhnt er für die Dauer seines Filmes mit dem, was an unserem
Dasein inkommensurabel bleibt.
"Uncle Boonmee erinnert
sich an seine früheren Leben" ist der sechste Kinofilm des 1970 geborenen
thailändischen Regisseurs; er ist assoziiert mit dem "Primitive Project",
zu dem mehrere Kurzfilme und Videoinstallationen gehören und das 2009 unter
anderem im Münchner Haus der Kunst zu sehen war. "Primitive Project"
entstand im Nordosten Thailands, in der Provinz Isan. Es ist
eine arme Gegend, weit weg vom Zentrum Bangkok. Die Rothemden, die in diesem
Frühjahr gegen die Regierung protestierten, haben dort ihren stärksten
Rückhalt. Und es ist eine Gegend, die eine schwierige Geschichte hat, weil
sie Schauplatz erbitterter politischer Kämpfe wurde. In Nabua, dem
Ort, an dem "Uncle Boonmee …" gedreht wurde, bekämpften sich von den
1960er bis in die 1980er Jahre Militärs und Kommunisten. Die Bewohner gerieten
zwischen die Fronten. Zahlreiche Menschen verschwanden. In den Film fließt
das ein, wenn auch in einer verfremdeten Form. Den vielen rotäugigen Affen
im Wald wird sicher kein Unrecht getan, wenn man in ihnen Wiedergänger
der Verschwundenen erkennt. Was wiederum nichts daran ändert, dass diese
Affen normalerweise in populären Comic-Heften zu Hause sind. Auch nichts
daran, dass Boonsons schwarze, zottelige Gestalt nicht denkbar wäre
ohne den Glauben an Seelenwanderung oder die animistische Tradition, die im
Nordosten Thailands besonders ausgeprägt ist.
Konstante Wechsel
Politik, Comic und Animismus stehen sich in "Uncle Boonmee" nicht im Weg. Weerasethakuls
Oeuvre ist durchlässig und offen, es kennt keine Abgrenzungen und fixen
Identitäten, es wandert von einer Seinsform in die andere,
so wie Boonmee in einer großartigen Sequenz in eine Höhle
herabsteigt und dort vom Leben in den Tod gleitet. Motive aus der Videoinstallation
lappen in den Film hinein, etwa die Aufnahme eines Feldes,
in dem große LED-Leuchtkörper stehen.
Der von Sakda Kaewbuadee
gespielte Tong trat bereits in "Tropical Malady"
(2004) auf, als junger Landbursche, der sich in einen Soldaten verliebt, und
als shape shifter, der sich nachts in einen Tiger verwandelt. In "Syndromes and a Century" (2006) war Tong ein Mönch, der
gerne Gitarre spielte (was die thailändischen Zensoren erregte); in "Uncle Boonmee …" spielt er den jungen Mann, der Boonmee beim
Sterben begleitet, und im letzten Akt ist er der Mönch, der Jen in einem
Hotelzimmer besucht, weil er sich im Tempel nicht wohlfühlt - eine mit
sich selbst nicht identische Filmfigur.
Der Film selbst ist in einem konstanten Wechsel begriffen.
Er teilt sich in sechs Abschnitte; jeweils prägen sie einen unterschiedlichen
Stil aus. Der vierte etwa beruft sich auf thailändische Märchen- und
Kostümfilme, indem er eine reich geschmückte Prinzessin mit vernarbtem
Gesicht in den Wald schickt, wo sie an einem Teich um ihre vergangene Schönheit
trauert. Ein Wels verwickelt sie in ein Gespräch, während sie ihr
Spiegelbild im Wasser betrachtet. Wenig später geht sie in vollem Ornat
ins Wasser, wirft ihren Schmuck ab, das Wasser sprudelt und wirbelt, ein Schwarm
Fische wallt es zusätzlich auf. Der Wels zappelt zwischen ihren Beinen
- in einer großartigen Kategorienvermengung zwischen Mensch und Tier.
Cristina Nord
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: taz
Zu diesem Film gibt's im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Uncle Boonmee erinnert
sich an seine früheren Leben
Thailand / Großbritannien / Deutschland / Frankreich
/ Spanien 2010 - Originaltitel: Loong Boonmee raleuk chat - Regie: Apichatpong Weerasethakul - Darsteller: Thanapat Saisaymar -
FSK: ohne Altersbeschränkung - Fassung: O.m.d.U. -
Länge: 113 min. - Start: 30.9.2010
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