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Unschuld
Night
on Earth
Die Anfangsszene täuscht und täuscht
auch wieder nicht. Eine asiatische Frau spült eine Schale Asche in den
Abfluss – einen Fingerhut voll streut sie auf ein Reisbällchen und isst
es. Die Toten sind fort und bleiben doch in uns, denkt man. Die Szene führt
auf eine falsche Fährte, weil dieses so distinguiert wirkende Ritual zwischen
einer Straßennutte und ihrer ermordeten Schwester stattfindet und direkt
gefolgt wird von einer brutalen Zurechtweisung ihres Zuhälters; und sie
sagt doch viel über den Film aus, weil die traurige Würde, die den
Figuren hier ganz unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit zugesprochen
wird, sich durch den ganzen Film zieht.
Regisseur Andreas Morell, zur Abwechslung
mal ein Spezialist für Musikfilme und Dokumentationen, der sich hier in
den abendfüllenden Spielfilm traut, schafft ein seltenes Kunststück
im deutschen Kino, das er denn auch gleich im Titel verewigt hat: Sein Film
schwimmt in Unschuld. Man spürt die großäugige Neugier des Filmemachers,
seine wertfreie Faszination für die Bedrohung, aber auch die Magie der
Großstadt, die so unterschiedliche Menschen in so verwirrenden Situationen
zusammenwirft. Es sind die Nächte unter Neonleuchten, an Bushaltestellen
und vor Leuchtreklamen, die hier gezeigt werden, die Goldenen Stunden der Abenddämmerung,
die pechschwarze Nacht und die Unsicherheit des Sonnenaufgangs – die Zeit der
kryptischen Vorahnung, von denen man nicht weiß, ob sie Glück oder
Untergang verheißen. Unschuld ist ein Personenpuzzle geworden, es geht
um Vorgeschichten, die wir mit uns herumschleppen und Vorahnungen, die uns den
Augenblick verderben; und natürlich geht es um die Große Liebe, die
immer beschworen wird und manchmal doch nichts als Blödsinn ist und manchmal
gefährlich und manchmal ganz einfach. Die Grenze zwischen Zärtlichkeit
und Obsession ist erschreckend dünn und schält sich erst nach und
nach aus dem Nebel der Vorahnung.
In den stärksten Momenten erzählt
Unschuld seine Szenen stumm und subtil und arbeitet
verstärkt mit Gesten, Gesichtern, Situationen: Das lange Zögern nach
der Vollbremsung, die ein Busfahrer vor einem Mädchen mit blutverschmiertem
Nachthemd auf der Landstraße hinlegen muss; die Annäherung in einer
Bar, die unbeantworteten Fragen, die im Raum hängen; ein unverständliches
Flüstern ins Ohr und der darauffolgende Blickwechsel. Wenn die Figuren
dann doch mal sprechen, klingt es oft prätentiös, deswegen hört
der Film manchmal nicht hin, filmt durch Glas oder aus weiter Ferne, schaut
den Figuren neugierig bei ihren hilflosen Versuchen zu, sich zu artikulieren.
Das liegt vielleicht auch daran, dass die Schauspieler nicht immer mit den eher
hölzernen Dialogen klarkommen, die zu viele Gefühle zu schnell vermitteln
wollen. Es ist egal: Die Stimmung trägt den Film, eine leise Melancholie
verklebt die Sprünge durch Zeit und Raum und Personal zu einer eleganten
Rundfahrt. Und manchmal trifft man sogar die ganz leise Poesie, wenn man gerade
von etwas ganz anderem redet, von Leberflecken zum Beispiel, die aussehen wie
Spiegeleier oder Erdbeeren. Auch das Gespür für feine Musik hat Morell
nicht verlassen: Enis Rotthoffs außergewöhnlicher Score klingt klassisch
und doch modern, unruhig und doch elegant, schwankt zwischen Streichquartett
und TripHop und bleibt immer eine Bereicherung.
So ergibt sich eine filmische Sammlung
von Kurzgeschichten, manche davon origineller als andere, von denen sich die
meisten zwischen Männern und Frauen abspielen. Es hätte den Film gestärkt,
wenn Kai Hafenmeisters in seinem etwas zu lang geratenen Drehbuch nicht alle
Fäden an einem bestimmten Punkt hätte zusammenziehen müssen.
Aber angesichts einer selten souveränen Eleganz in der Inszenierung sind
solche Einwände bald vergessen. Schwebend, vielleicht sogar ein bisschen
high, schwebt die Kamera durch diese kleinen Vignetten, blinzelt angesichts
der verkaterten Farben und der müden Zeitlupen, wie ein selbstsicherer
Liebhaber, der durch die Stadt streift, oder wie einer von Wenders’ Berliner
Engeln, seltsam entrückt von jeglicher Wertung oder Einmischung. Es ist,
wie es ist. Und siehe da: Es ist gut.
Daniel Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Unschuld
Deutschland
2008 - Regie: Andreas Morell - Darsteller: Nadeshda Brennicke, Kai Wiesinger,
Leslie Malton, Tobias Oertel, Young Shin Kim, Michael Kind, Jacob Matschenz,
Aylin Tezel, Jewgenij Sitochin, Luise Berndt, Ronald Kukulies - Länge:
94 min. - Start: 18.9.2008