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Die Vermissten
Der unsichtbare Abgang
„Die Vermissten“ von Jan Speckenbach ist ein Horrorfilm,
der ohne Science-Fiction auskommt: die Jugend kündigt den Gesellschaftsvertrag
mit den Erwachsenen
Die Region zwischen Hannover und Wolfsburg ist ein ausgesprochenes
Niemandsland. Wer die Strecke aus dem ICE kennt, kann sich ein Bild von der
Eintönigkeit dieses Landstrichs machen. Hier scheint die Zeit seit 1989
stehen geblieben zu sein, ein Grenzland ohne Mauer. Allein die hässliche
Architektur der VW-Autostadt, für den Durchreisenden nicht mehr als ein
Halt auf freier Strecke, kündet von einem Konjunkturversprechen, das den
Rest der Modernisierungsverlierer bereits wieder abgehängt hat.
Auch in Jan Speckenbachs Die Vermissten fährt einmal ein ICE durch das Bild und gibt der
Landschaft eine zeitliche Markierung. Doch das spezifisch Unspezifische der
niedersächsischen Tiefebene ist der Modus von Speckenbachs Film. Wer hier
dreht, stößt auf Ortschaften, die exemplarischer für den Zustand
strukturschwacher Kommunen kaum sein könnten. Heruntergekommene, meist
leere Straßenzüge, eine überalterte Bevölkerung und Rückstände
einer Stadtplanung aus Adenauers Zeit. Ein Land im Dornröschenschlaf. In
Die Vermissten reibt sich das Märchenmotiv an der gesellschaftlichen
Realität.
Ein Mann, Lothar, gespielt von André Hennicke,
sucht seine Tochter. Die 14-jährige Martha ist über Nacht verschwunden;
zum Vater hatte sie seit Jahren keinen Kontakt mehr. Nun ist er zurück,
vielleicht aus Schuldgefühl, vielleicht weil ihm sein eigenes Leben – er
arbeitet als Ingenieur im Bereich Reaktorsicherheit – irgendwann entglitten
ist. Lothar ist keine sonderlich plausible Figur, doch die innere Leere fügt
sich vortrefflich in das Austauschbare der Landschaft, die er wie ein Getriebener
durchforstet. Seine Suche hat keinerlei Systematik, er sammelt zufällige
Spuren, denen er verzweifelt einen tieferen Sinn abzugewinnen versucht. Was
hat es mit dem Club der Fliegenden Ratten auf sich, dem seine Tochter angehört?
Welche Bedeutung hat das Spruchband „Holt Euch Eure Kinder zurück“, das
aus einem Fenster hängt? Und warum verschwinden immer mehr Kinder aus der Gegend?
Exodus der Jugend
Der Horrorfilm verfügt über die Qualität,
im Vertrauten ein Gefahrenpotenzial für den Status quo auszumachen. Was
besonders augenscheinlich anmutet, das buchstäblich Un-Heimliche, wird
zum Indiz eines schleichenden Wandels. So sind in Die Vermissten ständig Jugendliche zu sehen – doch ihre Präsenz
löst ein umso stärkeres Unbehagen aus, je nervöser die Nachrichten
von einem Exodus der Jugend berichten. „Alle Menschen über 60 sollten umgebracht
werden,“ meint ein Junge einmal mit ausdrucksloser Miene zu Lothar, während
es draußen regnet und blitzt. Speckenbach bedient sich gern solcher Genre-Versatzstücke,
ohne sie überzustrapazieren. Wolf Rillas Paranoia-Klassiker Das Dorf der Verdammten stand genauso Pate wie Der Rattenfänger von Hameln, doch die Bedrohung nimmt in Die Vermissten konkrete Züge an: Sie manifestiert sich in erhöhter
Polizeipräsenz und Bürgerwehren gegen die aufbegehrende Jugend. Plötzlich
sieht es in der Bundesrepublik wie in einem Endzeitfilm aus.
Die Apokalypse, die sich in Die Vermissten anbahnt, ist jedoch keine Science-Fiction. Die Jugend
hat den Erwachsenen lediglich den Gesellschaftsvertrag aufgekündigt. „Ihr
nehmt euch das Leben, als gäbe es ewig Nachschub,“ wirft Lothar einer Ausreißerin
vor. „Besser als selbst der Nachschub zu sein,“ lautet die lakonische Antwort.
Der eigentliche Affront besteht in Die Vermissten dann auch darin, dass die nachfolgende Generation den
Aufstand verweigert. Sie hat sich längst aus dem Staub gemacht.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Freitag
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Die Vermissten
Deutschland 2012 - Regie: Jan Speckenbach - Darsteller: André M. Hennicke,
Luzie Ahrens, Sylvana Krappatsch, Jenny Schily, Sandra Borgmann, Christoph Bantzer,
Irene Rindje, Ecki Hoffmann - FSK: ab 12 - Länge: 86 min. - Start: 10.5.2012
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