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Vielleicht in einem anderen Leben
Von Revanche zur Gegengabe
April 1945 über Niederösterreich: Ein US Air
Force-Pilot wirft Kaugummipapier aus seinem Cockpit; es segelt zur Erde, in
die Hand eines jener ungarischen Juden, die grade von SS und Dorfleuten nach
Mauthausen getrieben werden. Ähnlich wie "Forrest Gump"
(mit seiner Feder) beginnt "Vielleicht in einem anderen Leben" mit
der Doppelung von Wunder und "geworfener" Materie im Bild des schwebenden
Futzels. Für das Bild des NS-Judenmordes in dieser ORF-Koproduktion ist
das programmatisch.
Das Papier aus Amerika/vom Himmel verweist auf ein Schlupfloch in eine Wunderwelt
der Rettung. Der Ungar, dem es zufiel - vor seiner Deportation Operettentenor
- sagt: "Die Welt will uns töten, also müssen wir so tun, als
wären wir in einer anderen." Irrealisierung qua Inszenierung, ein
Standardmotiv neuerer Holocaust-Spielfilme. Wenn der Mann genussvoll am Kaugummipapier
riecht, ist damit das Thema "Subjektwerdung durch Genießen"
etabliert. Um die mit ihm Deportierten aufzumuntern, ruft der Tenor: "Wir
können krepieren wie Ratten - oder Musik machen!" Also beginnen die
in einen Stadel Gepferchten, die Erfolgsoperette Wiener Blut
einzustudieren.
Das ist als improvisierter Schlupfweg in die Wunderwelt gemeint - und doch mehr
als Eskapismus. Scharangs Film fehle, so Siegfried Mattl in seiner Kritik, Reflexion
auf die Rolle von Filmoperetten wie Wiener Blut
im NS-Propagandabetrieb. Mehr noch: Dass der Film impliziert, erst Wiener Blut mache Menschen zu solchen (und nicht bloß Ratten!),
ist in diesem Kontext fatal. Auch wenn das nicht rassenbiologisch zugespitzt
ist, wie im Wiener FPÖ-Wahlkampf - einen Vitalismus intensiver Gefühle
teilt die Farce von 2011 mit der Filmoperette von 1942: Musik spendet unmittelbar
Leben ("Blut... Saft... Kraft... Mut"), in Gegensatz zu einem Nicht-Leben,
das in kalten Formen gefangen ist: in Kleinstaatlerei und Etikette (so zeigt
es Wiener Blut) bzw. in herzloser Kälte (so zeigt es Scharang). Diese Kälte
durchbricht eine Bäuerin, die den im Stadel Hungernden Brot und Suppe bringt.
Zum Dank bietet der Tenor an, Wiener Blut für sie
zu spielen.
"Die
Fälscher" ist jener Holocaust-Erfolgsfilm,
an den "Vielleicht in einem anderen Leben" sich am offensichtlichsten
anlehnt (zumal im Dialog über die Stofflichkeit von Suppe). Es geht um
Doppelungen von Wunder und fühlbarer Materie: "Die Fälscher"
konterte den Massenmord im Zeichen der Fälschung, Inszenierung durch Kreativarbeiter;
"Schindlers
Liste" hielt dem Holocaust eine
Kino-Ontologie der Liste als Gedächtnis-Bildung entgegen; und Tarantino
stellte NS-Geschichte ins Zeichen eines Archivs, das sich als sabotierbarer
Bildbestand materialisiert. Doch Scharang (von der es bessere Filme über
NS-Verbrechen gibt) zielt nicht auf Jewish revenge,
sondern auf jüdische Dankbarkeit - und Richtung "Revanche".
So hieß Götz Spielmanns Neo-Heimatfilm, in dem das Traumpaar Johannes
Krisch/Ursula Strauss - bei Scharang Bauer und Bäuerin - ein Drama um Verlust
und Wieder-Zulassen von Gefühlen absolvierte. Und nun: Holocaust als Setting
einer Paartherapie, bei der Herr und Frau Österreicher zu sich und einander
zurückfinden; sie spielt wieder Zither, er holt die alte Ziehharmonika
raus und lässt Tränen zu. Sogar Sex gibts wieder.
Wellnesskultur als Heilung vom National(sozial)ismus hinzustellen, damit ist
dieser Film nicht allein; aber so wie er Vitalitätstherapeutik und Wirklichkeitstranszendenz
engführt, das lässt der Geschichte besonders wenig Raum.
Benotung des Films: (2/10)
Drehli Robnik
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Bildpunkt, Zeitschrift der IG BILDENDE KUNST, Wien, Ausg. Frühling 2011, sowie in der : www.filmgazette.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Vielleicht in einem anderen Leben
Österreich / Deutschland / Ungarn 2010 - Regie: Elisabeth Scharang - Darsteller:
Ursula Strauss, Johannes Krisch, Péter Végh, Orsolya Tóth,
Franziska Singer, August Schmölzer, Rafael Goldwaser, Thomas Fränzel
- FSK: ab 12 - Länge: 95 min. - Start: 21.6.2012
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