zur startseite
zum archiv
zu den essays
Vielleicht in einem anderen Leben
Eine Gruppe ausgehungerter ungarischer Juden
strandet in den letzten Kriegstagen 1945 auf dem Weg zum KZ Mauthausen in einem
Dorf in der österreichischen Provinz. Sie werden, sehr zum Unmut des Bauern
Stefan Fasching, in dessen Scheune gesperrt und sich selbst überlassen.
Auch den anderen Bauern sind die Juden ein Dorn im Auge; gern wären sie
sie wieder los, zumal die Rote Armee nicht mehr weit entfernt ist. Faschings
Frau Traudl und die Magd Poldi sind das mörderische Wegschauen irgendwann
leid und beginnen, die ausgehungerten Gefangenen mit Brot und Suppe zu versorgen.
Weil sich unter den Juden der Budapester Sänger Lou Gandolf befindet, bietet
dieser an, als Gegenleistung die Operette „Wiener Blut“ unter den obwaltenden
Umständen zu inszenieren.
Dem Film von Elisabeth Scharang liegt das Theaterstück „Jedem das Seine“ von Peter Turrini und Silke Hassler zugrunde, was dem Film eine theatralische Verdichtung und symbolische Zuspitzung aufbürdet, die ihm nicht gut tut. Die Szenen in der Scheune sind Ensembleszenen, die geradezu choreografiert scheinen, wenn sich hohläugige Gestalten aus dem Dunkel des Raumes schälen, angeleitet vom Blick der schwenkenden Kamera. Zunächst zeigt sich der Bauer Fasching noch empört, als er bemerkt, was seine Frau hinter seinem Rücken treibt, doch dann packt er erstaunlich unmotiviert sein Akkordeon aus und reiht sich unter die Musizierenden ein. Im Verlauf der Proben erinnert sich Traudl daran, dass sie ein Klavier besitzen. Doch Fasching entgegnet, dass er das Instrument nicht vor den Russen versteckt habe, um es jetzt den Juden zu überlassen. Während man noch überlegt, wie das Klavier wohl in die Scheune transportiert würde, stellt sich heraus, dass das Instrument längst unter dem Stroh verborgen ist. Das ist ein reiner Theatereffekt, der im Kino als platter Witz erscheint. Doch auch die Pointe, dass es die Produktion von Kunst ist, die den Menschen ihre Würde zurück gibt, erscheint als recht papierene These, zumal sich der mörderische SS-Mann, der den Todesmarsch leitete, als Musikliebhaber entpuppt, auch wenn er Musik nur via Schellackplatte konsumiert, während in der Scheune alle Beteiligten angehalten sind, ihre musikalischen Talente zu entfalten.
Während die Szenen in der Scheune vielleicht noch zum etwas bemühten existenzialistischen Kammerspiel mit Sartre-Touch taugen, schlägt der Film in den Außenszenen eine ganz andere Sprache an, die ans kritische Geschichtsfernsehen der 1970er-Jahre erinnert. Im Dorf herrscht eine mordlustige Niedergedrücktheit, eine vom Alkohol befeuerte, von Fliegen umschwirrte Dumpfheit, in der selbst zurückgebliebene Kinder mit „Heil Hitler!“ durchs Dorf marschieren, während die feinen Herrschaften und der SS-Mann im Schloss wohnen und ihre Tischmanieren demonstrieren. Neben diesen klischeehaften Details von Geschichte und Milieu widmet sich der Film auch noch den Eheproblemen der Faschings, die sich durch die Ereignisse offenbar nach langen Jahren wieder für einander öffnen, weil Fasching dem eisernen Willen seiner Frau nichts entgegenzusetzen hat. Die Darsteller Johannes Krisch und Ursula Strauss erhalten dabei sehr viel Raum, um ihre Figuren mit psychologischer Tiefe auszustatten, was sie mit Bravour bewältigen.
Gerade dadurch aber wird der Film vollends inhomogen, denn während
die Ehegeschichte überzeugt, bleibt die plötzliche Annäherung
des Paars an die Eingesperrten ein Rätsel. Die Liebe zur Musik allein reicht
dafür nicht. Wenn der Film, wie teilweise zu lesen ist, eine „Hymne auf
die Menschlichkeit“ sein soll, dann wäre zu fragen, welchen politischen
Sinn eine Menschlichkeit macht, die letztlich nur taugt, sich unter die Opfer
der Unmenschlichkeit einzureihen und so eine symbolische Geste mit zu vollziehen,
die letztlich nur zur Erinnerung taugt. Anders gesagt: Die Zeit, die hier mit
Operettenproben gefüllt wird, hätte auch zur Flucht genutzt werden
können. So aber behält der Lynchmob das vorletzte Wort.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Vielleicht in einem anderen Leben
Österreich / Deutschland / Ungarn 2010 - Regie: Elisabeth Scharang - Darsteller:
Ursula Strauss, Johannes Krisch, Péter Végh, Orsolya Tóth,
Franziska Singer, August Schmölzer, Rafael Goldwaser, Thomas Fränzel
- FSK: ab 12 - Länge: 95 min. - Start: 21.6.2012
zur startseite
zum archiv
zu den essays