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Vorsicht
Sehnsucht
Irrlichternde
Gefühle
In
seinem neuesten Film „Vorsicht Sehnsucht“ treibt der französische Altmeister
Alain Resnais mit juveniler Experimentierfreude ein surreales Vexierspiel um
die Liebe
Mysteriös!
So beginnen Horrorfilme. Ein alter Turm steht in der Landschaft. Die Musik schwillt
an. Die Kamera bewegt sich auf den Turm zu, wird vom dunklen Eingangsloch geradezu
angesogen. Kurz bevor die Kamera ins Dunkle eintaucht, erscheint der Filmtitel
auf der Leinwand. Im französischen Original heißt der Titel „Les
herbes folles“ – Die verrückten Kräuter. Was damit gemeint ist, zeigt
das unmittelbar folgende Bild: Gras, das dort wächst, wo es eigentlich
gar nicht wachsen kann oder soll, dort, wo Asphalt oder Beton aufgebrochen ist.
Wo man es nicht erwartet. Die Kamera folgt einer solch grünen Spur vor
dunklem Grund für ein paar Meter und wechselt dann unversehens hinüber
in die Stadt, wo die am Boden bleibende Kamera zunächst nur Füße
und Schuhe und Unterschenkel der Passanten in den Blick bekommt.
Noch
einmal folgt ein Schnitt zurück auf eine Wiese, wo es keinen Asphalt gibt,
wo alles Gras und Grün ist; dann hat der Film ein Objekt entdeckt, von
dem sich zu erzählen lohnen könnte, eine Frau. Ein Erzähler mischt
sich ein: „Sie hatte keine gewöhnlichen Füße. Wegen ihrer Füße
ging sie dorthin, wo sie mit gewöhnlichen nicht hingegangen wäre.“
Nach Paris; der Name des Ladens fällt dem Erzähler gerade nicht ein,
aber in der Nähe des Ladens ist ein Platz mit Säulen. Und dann kündigt
der Sprecher an, was geschehen wird, wenn die Frau den Laden verlassen wird.
„Nichts Besonderes!“ Andererseits: „Wir werden sehen.“ Wird nicht die Erzählweise
eines Films mitunter gegenüber der Handlung eines Films unterschätzt?
„Vorsicht
Sehnsucht“, der neue Film des großen alten Regisseurs Alain Resnais, der
Anfang Juni seinen 88. Geburtstag feiert, ist ein einziger, sehr ironisch vorgetragener
Protest gegen Erzählkonventionen. Er erinnert an dessen Meisterwerke wie
„Hiroshima
mon amour“,
„Letztes
Jahr in Marienbad“,
„Das
Leben ist ein Roman“
oder „Providence“, nur dass der surreale Tonfall viel leichter, spielerischer
ausfällt. Man sollte dabei nicht vergessen, dass der vorletzte Film Resnais’
eine übermütige Operette war. Leider schaffte es „Pas sur la bouche“
nicht in die deutschen Kinos, war aber zum Beispiel 2004 auf dem Filmfest München
zu sehen.
Die
Geschichte, die „Vorsicht Sehnsucht“ basierend auf dem Roman „L’Incident“ von
Christian Gailly erzählt, ist trivial: Der Frau mit den ungewöhnlichen
Füßen, sie heißt Marguerite (Sabine Azéma), wird die
Handtasche gestohlen, der Dieb wirft die Brieftasche fort. Ein Mann, Georges
(André Dussolier), findet sie und beginnt sich Gedanken zu machen, wie
er die Frau, von der er nur wenig weiß, kennen lernen kann. Georges beginnt,
sich ein (Sehnsuchts-)Bild der Fremden zu machen, beginnt damit, ihr nachzuspüren,
ihr Briefe zu schreiben, sie allabendlich anzurufen, die Reifen ihres Autos
aufzuschlitzen.
Marguerite
schaltet die Polizei ein, um sich des Stalkers zu erwehren, der Polizist Bernard
de Bordeaux (Mathieu Amalric) geht im Verlauf der Fahndung weit über das
dienstlich Übliche hinaus. Immer mehr Schichten trägt der Film einerseits
auf, andererseits legt er auch neue Schichten frei. Ab und zu mischt sich aus
dem Off der Erzähler ein, von dem nie klar wird, wer da eigentlich spricht.
Versteht er überhaupt, was da auf der Leinwand vor sich geht? Um die Verwirrung
komplett zu machen, besitzt zudem Georges eine kommentierende Off-Stimme. Und
die Kamera scheint auch nicht recht bei der Sache zu sein, schweift ab, emanzipiert
sich vom Geschehen, nimmt sich frei.
Eine
meisterliche Sequenz, die geradezu typisch für den abenteuerlichen filmischen
Diskurs des Films ist, läuft so ab: Während das Kameraauge über
das Grün des Rasens gleitet, hören wir aus dem Off zwei Stimmen, deren
Gespräch darauf hindeutet, dass sich da gerade zwei Leute für ein
Treffen zurecht machen. Die Außenansicht eines Hauses gerät in den
Blick, man rechnet mit einem Schnitt, der uns ins Haus hinein zu den beiden
Sprechenden führt, aber die Linse fliegt über das Haus hinweg und
senkt sich auf die Terrasse, während der Dialog weiterläuft. Ein Auto
fährt heran; Gäste steigen aus. Erst jetzt sehen wir das Paar, das
wir zuvor schon aus dem Off gehört haben. Im Wohnzimmer nimmt man einen
Aperitif ein, wir hören ein Gespräch, das eine Mischung aus Dialog
und Kommentar sein könnte, während die Kamera sich aufmacht, das Erdgeschoss
zu erkunden.
Da
ist der Esstisch, da ist der Grill, an dem jetzt bereits Georges steht und zum
Nachschlag auffordert. Tochter Elodie kommt heran und holt sich ein Stück
Fleisch, die Kamera antizipiert ihre Bewegung zurück an den Esstisch, wo
Georges bereits sitzt. Kein Schnitt, sondern eine Bewegung, die souverän
über Zeit und Raum, über Innen und Außen der Figuren verfügt.
Die aber formalistisch bleibt, keinen Sinn hat, abgesehen davon, dass mit dem
Zuschauer gespielt wird.
Und
so geht es weiter, die Geschichte entfaltet sich: Der zu Beginn so souveräne
Georges nimmt irritierende Züge an. Sein Lebensekel paart sich mit Larmoyanz
und Frauenhass. Dafür scheint die patente Marguerite als Zahnärztin
eine ziemliche Katastrophe zu sein, die an einem guten Tag einem Dutzend Menschen
Tränen des Schmerzes in die Augen treibt. Trotzdem kommen sich die Welten
von Georges und Marguerite ins Gehege, wenngleich wir nicht ausschließen
wollen, dass es sich bei ein paar Episoden ausschließlich um Projektionen
von Georges handeln könnte.
Was
Tragödie oder Melodram sein könnte, bleibt hier immer Boulevard mit
leicht absurd-surrealen Zügen. Nach gut 90 Minuten steht zum ersten Mal
„Fin“ auf der Leinwand, aber dieser Schluss wäre nun überaus konventionell.
Stattdessen steuert die Handlung auf eine Katastrophe zu – die aber wiederum
ausgespart bleibt, weil die Kamera schon etwas viel Interessanteres entdeckt
hat und sich endgültig von dem Geschehen abgesetzt hat. 95 Minuten lang
hat uns Resnais gezeigt, was man anstellen kann mit Bildern, Tönen und
Bewegungen, mit geradezu jugendlicher Experimentierfreude, die man sonst nur
einem Absolventen der Filmhochschule unterstellt.
Im
Presseheft schwärmt Resnais von der Musikalität der Vorlage, von deren
Lust an der Improvisation mit Standards. Greift man diese Idee auf, dann ist
„Vorsicht Sehnsucht“ in der Tat eine jazzig swingende Improvisation über
einen Standard-Lovesong. Zwar kein Free Jazz, aber nicht allzu weit davon entfernt.
Ulrich
Kriest
Dieser
Text ist zuerst erschienen im: Rheinischen Merkur
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Vorsicht
Sehnsucht
Frankreich
2009 - Originaltitel: Les herbes folles - Regie: Alain Resnais - Darsteller:
André Dussollier, Sabine Azéma, Anne Consigny, Emmanuelle Devos,
Mathieu Amalric, Michel Vuillermoz, Edouard Baer, Annie Cordy - FSK: ab 12 -
Länge: 103 min. - Start: 22.4.2010
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