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Wagner & Me
Ein Engländer in Bayreuth. Wenn es sich zudem um Stephen Fry handelt, einen Komiker, Drehbuchautor, Regisseur, Schauspieler, Schriftsteller und Cambridge-Abgänger, der die britische Mentalität in exzentrischster Vollendung verkörpert, dann kann die Stippvisite im Epizentrum der germanischen Tiefsinnigkeit nur ein Triumph des Augen öffnenden Kultur-Clashs werden. Seine Fernsehdokumentation im Auftrag der BBC (vier Jahre zuvor beschäftigte er sich für den Sender noch mit der Erkrankung der manischen Depression) lebt von der Präsenz des unermüdlich parlierenden Wagner-Liebhabers Fry. Anders hat man es auch nicht erwartet. Einen Regisseur hat er sich trotzdem zur Seite gestellt, auch wenn dessen Aufgabe wohl lediglich darin bestand, dem ausufernden Material eine dramaturgische Reduktion zu verpassen. Ohne einen Anspruch auf besondere filmische Raffinessen begleitet die Kamera den Erzähler Fry in jeden noch so versteckten Umkleideraum hinter der Bühne des berühmten Festspielhauses, filmt die Proben, Wirkungsstätten und geistreichen Interviews mit Musikern, Historikern und Dirigenten. Fry genießt es sichtlich, Einblicke in den Geschäftsalltag des Unternehmens Bayreuth zu bekommen, lächelt unentwegt wie ein Geburtstagskind und ergeht sich in amüsierenden Bekenntnissen, die zunehmend auf eine leidenschaftliche Apologetik des umstrittenen Meisters hinausläuft. Trotz aller Vorbehalte, die er in einem Zwiegespräch mit sich selbst vorträgt, bleibt der Sohn einer österreichisch jüdischen Emigrantin, die einen Teil ihrer Familie im Holocaust verloren hat, dem so innovativen wie antisemitischen Komponisten treu ergeben, auch wenn er deswegen wiederholt die Musik vor dem Erschaffer in Schutz nehmen muss.
Entlang von dokumentarischem Material, das Wagners widersprüchliche
Biografie ebenso aufgreift wie Hitlers Begeisterung für den ihm gewogenen
Familien-Clan, lässt Fry keinen Zweifel daran, dass er das Nervenkostüm
des „Genies“ zumindest für ambivalent hält. Psychologische Mutmaßungen
über die Gründe seiner in den Antisemitismus mündenden Frustration
werden ebenso aufgefahren („Wagner war erfüllt von seiner Eifersucht auf
die jüdischen Komponisten Mendelssohn und Meyerbeer“) wie die Kontroverse
unter den vielen Zeitgenossen, etwa Nietzsche, die schon zu seinen Lebzeiten
mit dem komplizierten Charakter des Egomanen haderten. Der historische Aufriss
ist gründlich und kurzweilig zugleich, dank der vielen Sprünge, die
einem assoziativen Fluss gehorchen. Fry vertieft sich in Wagners Schriften,
besucht das „Reichsparteitagsgelände“ in Nürnberg und die bayerischen
Märchenschlösser. Sein Gesichtsausdruck kann schon mal in einer Sequenz
von purer Begeisterung zu quälendem Zweifel wechseln; man leidet mit ihm
und freut sich über die vielen entzaubernden Beobachtungen des künstlerischen
Personals, das anstatt den Regieanleitungen zu folgen mit dem Smartphone hantiert.
Am Ende bleibt die deprimierende Einsicht, dass ein großes Werk vor keiner
ideologischen Entgleisung schützt. Man denke nur an Ezra Pound und Louis-Ferdinand
Céline, die der Literatur einen Modernitätsschub verpassten und
als glühende Nazis und Antisemiten ihren Ruf verspielten. Stoff für
ähnlich aufregende Dokus wie die des begnadeten Skeptikers Stephen Fry
gäbe es also noch genug.
Alexandra
Wach
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film Dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Wagner & Me
Großbritannien 2010 - Regie: Patrick McGrady - Mitwirkender: Stephen Fry
- Prädikat: besonders wertvoll - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 89 min.
- Start: 21.6.2012
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