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Weit
weg - Loin
Spezialisten
des Unterwegsseins
Der
Film „Loin“ von André Téchiné thematisiert die Erfahrung
der Grenze
Initiationsgeschichten
sind die Filme des französischen Regisseurs André Téchiné
und Erkundungen eines Zwischenreichs, das per definitionem vom Transitorischen
handelt, dabei räumlichen und zeitlichen Übergängen einen unsicheren,
stets gefährdeten Ort zuweist. Jugendliche stehen deshalb im Mittelpunkt
von einigen seiner Arbeiten: in „Schauplatz des Verbrechens“, „Ich küsse
nicht“ und „Wilde Herzen“, seinem vielleicht bekanntesten Film. Rastlos und
impulsiv, unzuverlässig und unberechenbar sind Téchinés Helden,
geradezu verloren in einem unbestimmten Drang, der keine Heimat kennt, und in
energiegeladenen Kräften, die sich dem eigenen Willen widersetzen. Immer
wird diese innere Unbehaustheit im Zustand emotionaler Verunsicherung und Orientierungslosigkeit
gespiegelt an Orten, denen Aufbruch und Veränderung eingeschrieben sind.
Der Verlust äußerer Bezugspunkte und eine ins Undeutliche gleitende
Identität markieren insofern ein postmodernes Lebensgefühl.
Auch
der einzelgängerische, verschlossen und angespannt wirkende Serge (Stéphane
Rideau) in „Loin“ (Weit
weg)
gehört zu diesen verwirrten, desorientierten Helden, die in besonderer
Weise verführ- und manipulierbar sind. Als Lkw-Fahrer, der Textilwaren
zwischen Frankreich und Marokko transportiert, ist er nicht nur ein Spezialist
des Unterwegsseins, dem die Erfahrung der Grenze maßgeblich eignet, sondern
auch ein Heimatloser, der unzuverlässig ist in seinen Gefühlen zu
Menschen. Die Liebesbeziehung zu Sarah (Lubna Azabal), einer jüdischen
Marokkanerin, die in Tanger eine Pension betreibt, in der vorzugsweise schwarzafrikanische
Auswanderer Unterschlupf finden, wird deshalb von einem ständigen Hin und
Her bestimmt. Serges riskante Einlassungen mit undurchsichtigen Drogenschmugglern
führen ihn in eine fatale Abhängigkeit, die schließlich eine
klare Entscheidung hinsichtlich seiner Freundin fordert. Auch seine Freundschaft
zu Saïd (Mohamed
Hamaidi), dem best
boy
der Pension, dessen wertvollster Besitz ein Fahrrad ist, wird vor diesem Hintergrund
einer harten Belastungsprobe ausgesetzt.
Mit
den beiden Nordafrikanern verbindet Téchiné in seiner Dreiecksgeschichte,
die einen Zeitraum von drei Tagen umfaßt, zugleich das moderne Thema der
Migration, das in der rigiden Grenze zwischen Europa und Afrika und dem mit
ihr verbundenen Wohlstandsgefälle einen unmißverständlichen,
brutalen Ausdruck findet. Während Saïd
illegal das Land verlassen will, weil er von einem besseren Leben träumt,
überlegt Sarah, zu ihrem Bruder nach Kanada auszuwandern. Ihr Schwanken
kennzeichnet das ganze Spektrum zwischen der Hoffnung auf Veränderung und
der Aussicht auf eine ungewisse Fremde. Daneben beinhaltet es auch eine kulturelle
Differenz: Der Fortschrittsgläubigkeit steht auf der anderen Seite das
tiefe Gefühl gegenüber, daß die Zeit nicht existiert.
Tanger
als „Ort in Randlage, gleichzeitig Brückenkopf und Barriere“ (Téchiné)
zwischen armer und reicher Welt ist in „Loin“ ein melting
pot
der Völker und Kulturen, voller clashs und
mit einem faszinierenden Nebeneinander von Altem und Neuem, Orient und Okzident,
von Sprachen und Religionen. Hier träumen die einen vom Norden, während
die anderen im Geiste Paul Bowles der mythischen Vergangenheit einer sterbenden
Kultur nachtrauern. Vor allem in den vielen, sehr intensiv erfahrbaren Straßenszenen,
die zwischen Lebendigkeit und Stille changieren, ist diese ambivalente Stimmung
gegenwärtig. Aus wirtschaftlichen Gründen mit mobiler Digitalkamera
und kleinem Team gedreht, vermittelt Téchinés Film diese Atmosphäre
direkt. Und er eröffnet mit einer Reminiszenz an Jean Renoirs „The River“
unerwartet einen versöhnlichen Blick aufs Leben.
Wolfgang
Nierlin,
30.
November 2002
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Weit
weg - Loin
Frankreich
2000 - Originaltitel: Loin - Regie: André Téchiné - Darsteller:
Stéphane Rideau, Lubna Azabal, Mohamad Hamaïdi, Jack Taylor, Yasmina
Reza, Gaël Morel, Rachida Brakni, Nabila Baraka, Faouzi Bensaïdi -
Fassung: O.m.U. - Länge: 120 min. - Start: 12.9.2002
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