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Wendy
& Lucy
Die
Route von Indiana nach Alaska führt durch einige der ödesten Landstriche
der USA. Das Mädchen Wendy bleibt auf halber Wegstrecke im waldreichen
Oregon stecken, weil ihr alter Honda den Geist aufgibt. Das Roadmovie diente
bislang jeder Generation als Sinnstifter in den kleinen Lebenskrisen; seine
Mobilität war dabei immer auch ein Zeichen von ungebrochenem Optimismus
und (ökonomischer) Freiheit. Die schlimmste Vorstellung war, dass das Auto
mitten im Nirgendwo liegen blieb. Im Horrorfilm der Siebziger Jahre, zur Zeit
der letzten großen amerikanischen Krise - Vietnam, Watergate, steigende
Ölpreise - kamen dann immer die Kannibalenfamilien und Meuchelmörder,
als Ausdruck eines gesellschaftlichen Unbehagens. Auch in Kelly Reichardts zweitem
Spielflm „Wendy & Lucy“ wird die Bewegung des Roadmovies durch eine technische
Panne jäh unterbrochen, aber es bedarf heute keiner verrückten Serienkiller
mehr, um ein kollektives Ohnmachtsgefühl heraufzubeschwören. Es reicht
schon, in einer dieser unzähligen amerikanischen Kleinstädte zu stranden,
die seit Jahren langsam dem Verfall preisgegeben sind.
Ihre
Hündin Lucy und ihr Auto sind Wendys letzter Besitz; die Reisekasse, über
die sie penibel Buch führt, scheint gerade bis zum nächsten Zwischenstopp
zu reichen. Irgendetwas ist in ihrem Leben passiert, aber Reichardt lässt
Wendys Vorgeschichte bewusst offen. Ein kurzes Telefonat mit der Schwester legt
nahe, dass auch der Kontakt zur Familie abgebrochen ist. Mehr Kontext ist nicht
nötig. „Wendy & Lucy“ spielt im Hier und Jetzt; das Leben am finanziellen
Limit lässt keine Planungssicherheit zu. Es geht nur darum, den nächsten
Tag zu überstehen.
Doch
mit dem sozialen Abstieg geht auch eine schleichende Isolation einher. Dieses
Gefühl der Vereinsamung erzielt Reichardt mit langen, ruhigen Einstellungen,
die Williams meistens mit sich allein lassen. Wendys einziger Verbündeter
ist der Sicherheitsmann des örtlichen Wal-Marts, auf dessen Parkplatz ihr
Wagen den Geist aufgibt. Zusammen bilden sie eine Art Schicksalsgemeinschaft.
„Es gibt hier wohl nicht viel zu tun,“ meint Wendy einmal zu ihm, während
sie die Menschen auf der Staße beobachten. Mit Solidarität darf sie
trotzdem nicht rechnen. Als Wendy im Supermarkt etwas Hundefutter mitgehen lässt,
wird sie von einem übereifrigen Verkäufer festgehalten und der Polizei
übergeben. Lucy bleibt an einem Pfosten auf dem Parkplatz angekettet zurück.
Als Wendy sie Stunden später wieder abholen will, ist Lucy verschwunden.
Für die junge Frau bricht eine Welt zusammen. Ihre verzweifelte Suche nach
dem Hund wird zu einer Metapher für die Sehnsucht nach menschlicher Würde.
Was
passiert, wenn ein Mensch sich ganz unvermittelt und allein gelassen in den
Trümmern seiner Existenz wiederfindet, beschreibt Kelly Reichardt mit einer
Sachlichkeit und Empathie, wie man es im Kino lange nicht gesehen hat – ohne
dabei die sozialen Verhältnisse auszublenden. Reichardt und Williams meistern
die Herausforderung mit einem Höchstmaß an menschlicher Empfindungsgabe.
Die Verantwortung einer Schauspielerin für einen Film, der im Grunde allein
von ihrer Darstellung lebt, ist immens. Michelle Williams spielt Wendy mit einer
Zurückhaltung, in die sich kaum einmal ein tieferer emotionaler Ausdruck
verirrt. Ob Mut der Verzweiflung oder Resignation lässt sich in ihrem blassen
Gesicht nicht ablesen. Man fühlt sich geradezu erleichtert, als sie schließlich
in einen Weinkrampf ausbricht, nachdem ihr beim Übernachten im Wald ein
harmloser Irrer einen Schrecken eingejagt hat. Für einen Augenblick weicht
alle Anspannung von ihr.
Ähnlich den Dardenne-Brüdern beschreibt Reichardt den Kampf einer jungen Frau um ihre Würde ohne betont sozialkritischen Unterton. "Wendy & Lucy" ist kein Film der großen Worte, sondern der genau beobachteten Details. Wie schon in ihrem Debütfilm "Old Joy" über zwei Freunde, die sich nach Jahren wiedersehen und feststellen, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben, beweist Reichardt ein sicheres Gespür für Orte. Im Westküsten-Bundesstaat Oregon mit seinen endlosen Wäldern hat noch eine gewisse Hippie-Mentalität überlebt. Doch dieses Roadmovie-Gefühl von Offenheit und Weite stößt in "Wendy & Lucy" an Grenzen. Die schmucklosen Straßenzüge des Kaffs, in dem Wendy gelandet ist, zeugen in ihrer Gleichförmigkeit vom gesellschaftlichen Stillstand. Bezeichnenderweise führt ihre Suche Wendy immer wieder zurück zum Wal-Mart. Schon in dieser zirkulären Bewegung deutet sich das Scheitern des Roadmovies an: Wendy kommt nicht mehr von der Stelle. Ohne Geld, Auto oder eine Unterkunft ist sie gerade noch in der Lage, auf die permanenten Rückschläge zu reagieren.
Doch
ihre Handlungsmöglichkeiten verschlechtern sich von Mal zu Mal. Geld ist
in Reichardts Film ein wiederkehrendes Motiv; den Zwängen des Geldverkehrs
kann sich niemand entziehen, auch wenn man selbst über keines verfügt.
So ist am Ende das Aushändigen einiger Scheine, von einer leeren Hand zur
nächsten sozusagen, die berührendste menschliche Geste des Films.
Der Sicherheitsmann drückt Wendy bei ihrem Abschied ein paar Dollar in
die Hand, für ihn zweifellos ein kleines finanzielles Opfer. Wendy hilft
es trotzdem nicht weiter. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.
Andreas
Busche
Dieser
Text ist zuerst erschienen im: www.fluter.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Wendy
& Lucy
USA
2008 - Originaltitel: Wendy and Lucy - Regie: Kelly Reichardt - Darsteller:
Michelle Williams, Will Oldham, Will Patton, Larry Fessenden, Walter Dalton,
John Robinson, Michelle Worthey, John Breen - FSK: ab 6 - Fassung: O.m.d.U.
- Länge: 80 min. - Start: 22.10.2009
DVD
Veröffentlichung am 23.04.2010 bei filmgalerie 451
Extras:: Interview mit Kelly Reichardt
(Cannes 2008, ca. 16 min, Englisch), Kurzgeschichten TRAIN CHOIR (Vorlage zu
WENDY AND LUCY) und OLD JOY von Jon Raymond, Trailer
Untertitel: Deutsch
Sprache: Englische Originalfassung
Bildformat: 16:9
Tonformat: Dolby Digital 2.0
Ländercode: Region 2
System: PAL Farbe
FSK: Ab 6 Jahren
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