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Wendy
& Lucy
Das
Meisterwerk dieser Woche "Wendy & Lucy" läuft unter weitgehendem
Ausschluss der Öffentlichkeit an. Kelly Reichardt erzählt darin solidarisch
von einer prekären Existenz.
In
dieser Woche läuft ein Film an, der alles besitzt, was einem amphibischen
Nichts wie der "Päpstin"
fehlt. Nur dass sich seine Produktionskosten auf nicht einmal ein Prozent jenes
Werks belaufen, mit dem er in den Kinos der Republik nun natürlich nicht
im Ernst konkurriert. Kelly Reichardts "Wendy & Lucy" ist, ganz
zu Recht, von den zuständigen kritischen Stellen als einer der schönsten
Filme des vergangenen Jahrs längst gefeiert. Nun nimmt sich der ans Berliner
fsk-Kino angeschlossene Peripher-Verleih das Herz, das man braucht, um ein kleines
Meisterwerk wie dieses unter die paar Leute zu bringen, die von seiner Existenz
je erfahren werden.
"Wendy
& Lucy" ist ein Film von großer und anrührender Einfachheit,
einer Einfachheit, die um die große Kunst, die in ihr steckt - als Kunst
des Verzichts auf alles, was falsch ist - kein Aufhebens macht. Er erzählt
von Wendy (Michelle Williams), einer jungen Frau, die ohne festen Wohnsitz und
ohne Handy unterwegs ist in Richtung Alaska. Dort will sie in einer Fischkonservenfabrik
Arbeit finden, der Weg ist noch weit. Sie hat ein Auto, in dem sie schläft,
sie hat als einzige Begleiterin die Hündin Lucy, die sie liebt. Das Auto
und Lucy kosten aber auch Geld, das sie nicht hat. In einem Ort im Bundesstaat
Oregon gerät die prekäre Existenzform am Rand der Gesellschaft in
eine Krise.
Das
Auto springt nicht mehr an. Das Hundefutter geht aus. Wendy sucht einen Supermarkt
auf und klaut Futter für Lucy. Sie wird erwischt, ein junger und in erster
Linie selbstgerechter Angestellter des Ladens sieht sich als Vertreter von Recht
und Gesetz und übergibt Wendy der Polizei. Sie lässt notgedrungen
Lucy zurück, verbringt Stunden auf dem Revier. Ihre Identität wird
festgestellt, Fingerabdrücke werden genommen, die Strafe bezahlt sie vom
wenigen Restgeld gleich an der Kasse. Als sie Lucy da abholen will, wo sie sie
zurücklassen musste, ist diese verschwunden.
Von
einer Gesellschaft, in der es zu so was leicht kommt, erzählt ohne große
Anklagegesten Kelly Reichardt. Sie verbleibt dabei auf der Ebene der Konkretion.
Das war schon die Stärke des Vorgängerfilms "Old
Joy"
und erweist sich so als des eigenen Tuns sehr bewusste Methode. Der Zustand,
in den Wendy gerät, ist, als eine von vielen Geschichten, die man aus ihr
erzählen kann, der Zustand der amerikanischen Gegenwart. Schnell ist, wer
nicht alles mitmachen will, durch die weiten Maschen der Netze gerutscht, die
denen am Rand Hilfe zu leisten eigentlich da sind. In diesem Zustand sieht sich
das Individuum zurückgeworfen: auf sich selbst, auf eine treue Hundeseele
und auf Mitmenschen guten Herzens. Einen solchen gibt es durchaus, es ist der
Wächter eines Parkplatzes, von dem er, weil es der Job fordert, Wendy zu
Beginn des Films vertreibt.
Die
amerikanischen Mythen - vom Aufstieg, von der Freiheit des Unterwegsseins -
haben ihre schmutzige Rückseite. "I'm passing through", sagt
Wendy, die in dieser amerikanischen Allterwelts-Kleinstadt feststeckt, wieder
und wieder. Es ist genau dieser Ausdruck, der schon in Monte Hellmans Road-Movie
des Absurden "Two-Lane
Blacktop"
aus dem Jahr 1971 die zentrale Ortsangabe war. Als Diagnose eines amerikanischen
Traums, der von der Freiheit des einzelnen berichtet, auf verlorenem Posten
unterwegs und damit in Wahrheit von jeder Partizipation an der Gesellschaft
ausgeschlossen zu sein. Immerzu fahren die Züge durchs Land, kein Geräusch
hört man im Lauf des Films so häufig wie das im Amerika zwischen den
Küsten tatsächlich allgegenwärtige Zugsignal. Es mag mal der
Sound des Aufbruchs gewesen sein und des Fortkommens. Hier wird's zum Leitmotiv
der Verlorenheit. Wie die Hobos in der Depression der Dreißiger Jahre
macht sich am Ende Wendy im Frachtzug davon.
Kelly
Reichhardt protokolliert einen Beispielfall und gibt ihm Tiefe und Individualität.
Wunderbar ist Michelle Williams, die die Willenskraft ihrer Figur, aber auch
ihre Verzweiflung in kleinen Gesten offenbart. Gesten sind das, denen man anmerkt,
dass an sie keine Energie verschwendet werden darf, weil man die für den
Kampf an anderer Stelle noch braucht. Reichardt fängt in ihren Bildern
die Verlorene auf. Sie erklärt ihrer Protagonistin ohne Anbiederung, ohne
falsche Töne und Gesten und mit großer Beobachtungsgabe unmissverständlich
ihre Solidarität. Mehr tut sie nicht. Ein kleiner Film, aber er enthält
eine Welt.
Ekkehard
Knörer
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Wendy
& Lucy
USA
2008 - Originaltitel: Wendy and Lucy - Regie: Kelly Reichardt - Darsteller:
Michelle Williams, Will Oldham, Will Patton, Larry Fessenden, Walter Dalton,
John Robinson, Michelle Worthey, John Breen - FSK: ab 6 - Fassung: O.m.d.U.
- Länge: 80 min. - Start: 22.10.2009
DVD
Veröffentlichung am 23.04.2010 bei filmgalerie 451
Extras:: Interview mit Kelly Reichardt
(Cannes 2008, ca. 16 min, Englisch), Kurzgeschichten TRAIN CHOIR (Vorlage zu
WENDY AND LUCY) und OLD JOY von Jon Raymond, Trailer
Untertitel: Deutsch
Sprache: Englische Originalfassung
Bildformat: 16:9
Tonformat: Dolby Digital 2.0
Ländercode: Region 2
System: PAL Farbe
FSK: Ab 6 Jahren
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