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Wendy
& Lucy
Schutzlos
ausgesetzt
In
Indiana ist die junge Frau mit ihrem Hund und wenigen Habseligkeiten aufgebrochen.
Wendy (Michelle Williams) schläft in ihrem Auto, wäscht sich in der
Tankstellen-Toilette, isst wenig und führt akribisch Buch über das
wenige Geld ihrer Reisekasse. Auf dem Weg nach Alaska, wo sie auf Arbeit in
einer Fischfabrik hofft, strandet sie in Portland, Oregon. Und ausschließlich
hier, an einem unwirtlichen, zergliederten Ort des Übergangs spielt Kelly
Reichardts beeindruckend subtiler Film „Wendy and Lucy“. Schon der Güterbahnhof
mit seinem Schienengeflecht und den abfahrenden Zügen am Beginn betonen
diesen Transitraum als nicht nur geographische Zwischenstation. Für Wendy,
die bald gezwungen sein wird, in einem Zustand bangen, ungewissen Wartens zu
verharren, laufen hier die Enttäuschungen der Vergangenheit und die vagen
Hoffnungen der Zukunft zusammen. Kelly Reichardt nutzt diese prekäre Verfassung,
um von der Depression des armen Amerika zu erzählen und zugleich das individuelle
Bild einer existentiellen Fremde und Verlorenheit zu entwerfen.
Wendy
gehört in jene Galerie trauriger Frauenfiguren, die – von Barbara Lodens
„Wanda“,
über Agnès Vardas Mona in „Vogelfrei“ bis
zu „Rosetta“ im
gleichnamigen Film der Brüder Dardenne - unaufgehoben, ja geradezu ausgesetzt
sind. Ihre zwangsläufig eingeschränkte Perspektive auf das Leben hat
sie introvertiert und kontaktscheu gemacht. Auch Wendy ist distanziert und dabei
symbiotisch auf ihre Hündin Lucy fixiert. Die verstockten, in kühler
Selbstbezogenheit verharrenden Menschen ihrer Umgebung verstärken das noch.
Mangelnde Aufmerksamkeit, Kommunikationsarmut und Gleichgültigkeit gegenüber
der Not des anderen kennzeichnen diese soziale Kälte. Reichardt setzt die
Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung in eine spannungsgeladene Beziehung.
Erst als Wendys Auto streikt und sie nach einem Ladendiebstahl und vorübergehendem
Polizeigewahrsam Lucy verliert, öffnet sie sich langsam, ohne wirklich
Nähe herstellen zu können.
Was
an Wendys Schicksal ebenso berührt wie beunruhigt und den Zuschauer mit
eigenen Erfahrungen konfrontiert, ist das Ausmaß ihrer Abhängigkeit,
mehr noch ihres Ausgeliefertseins, sobald sich die labilen Koordinaten ihres
improvisierten Alltags verschieben und zu einer dramatischen Desorientierung
führen. Wendy fällt aus ihrer mühsam aufrechterhaltenen Ordnung,
und es gibt kein soziales System, das sie auffängt. Zur Mittellosigkeit
kommen emotionaler Schmerz und nackte Angst, wenn sie nachts schutzlos im Wald
übernachtet. Allein zu einem mitfühlenden Parkplatzwächter (Walter
Dalton), der ihr zögerlich mit Handy und Geld bei der Suche nach der Hündin
hilft, fasst Wendy Vertrauen, entflieht sie dem Gefängnis der Anonymität.
In
ruhigen, völlig unspektakulären aber genauen Bildern erzählt
Kelly Reichardt von der bewegenden inneren Unruhe eines äußeren Stillstands.
Leise und konzentriert ist der Tonfall ihres dokumentarisch anmutenden, unaufdringlichen
Films; in langen Einstellungen und unter Verzicht auf äußere Dramatik
entfaltet er ein enormes Gespür für Stimmungen und vermittelt so etwas
von den fast unmerklichen Vibrationen zwischen den Menschen. Mit viel Gefühl,
dabei aber unsentimental erzählt Reichhardt in „Wendy and Lucy“ von der
Suche nach einem (auch geographischen) Halt, von Armut, Einsamkeit, Liebe und
schmerzlicher Trennung. Und sie lotst dafür mit steter menschlicher Anteilnahme
ihre verloren wirkende Heldin durch die sehr realen Gefängnisse des Alltags.
Wolfgang
Nierlin, 14.
Dezember 2009
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Wendy
& Lucy
USA
2008 - Originaltitel: Wendy and Lucy - Regie: Kelly Reichardt - Darsteller:
Michelle Williams, Will Oldham, Will Patton, Larry Fessenden, Walter Dalton,
John Robinson, Michelle Worthey, John Breen - FSK: ab 6 - Fassung: O.m.d.U.
- Länge: 80 min. - Start: 22.10.2009
DVD
Veröffentlichung am 23.04.2010 bei filmgalerie 451
Extras:: Interview mit Kelly Reichardt
(Cannes 2008, ca. 16 min, Englisch), Kurzgeschichten TRAIN CHOIR (Vorlage zu
WENDY AND LUCY) und OLD JOY von Jon Raymond, Trailer
Untertitel: Deutsch
Sprache: Englische Originalfassung
Bildformat: 16:9
Tonformat: Dolby Digital 2.0
Ländercode: Region 2
System: PAL Farbe
FSK: Ab 6 Jahren
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