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Wenn
einer von uns stirbt, geh' ich nach Paris
Auch
die Nachbarin kann es immer noch nicht richtig fassen. Die Frau gegenüber
hat noch das Häuschen renovieren lassen und voller Elan für eine Prüfung
gelernt. Nur, dass sich die Post vor der Eingangstür stapelte, kam der
Nachbarin komisch vor. Man brach die Tür auf, und im Bett lag eine Tote
mit geschminkten Lippen und gekämmten Haaren. „Wie Schneewittchen",
sagt eine Freundin. Mechthild hat Schlaftabletten genommen. „Keine lebensverlängernden
Maßnahmen", stand im Abschiedsbrief.
Kann
ein Film über eine Tote nicht auch lebensverlängernd sein? Worin liegt
der Sinn, ein Leben, die schönen und die schwarzen Momente, noch einmal
aufzurollen? Hat nicht die Hauptfigur einen endgültigen Schlusspunkt gesetzt
und gewollt? Begraben und vergessen? Der Film widerspricht. Und vielleicht hilft
ja die radikale, mitunter schwer erträgliche Offenheit, mit der in diesem
Film Familiengeheimnisse ans Licht gerissen werden, den Schmerz der Lebenden
zu lindern. Vielleicht auch nicht.
Am
Ende der Dokumentation erfahren wir, dass auch Mechthilds Tochter einen Selbstmordversuch
verübte - als es den Film noch nicht gab. Der Freitod der Mutter „hat die
Familie bis heute im Griff", sagt ihr Sohn, der Regisseur Jan Schmitt.
Seine filmische Spurensuche ist ein Plädoyer dafür, die Dinge zur
Sprache zu bringen. Am Ende bleiben Zweifel darüber, wie viel öffentliche
Enthüllung zuträglich ist - für den inneren Kreis der betroffenen
Familie.
„Wenn
einer von uns stirbt, geh’ ich nach Paris" - der Titel geht auf einen flapsigen
Spruch unter Eheleuten zurück. So heißt das Filmdebüt des 40-jährigen
Jan Schmitt. 1996 hat sich seine Mutter das Leben genommen. Schmitts Spurensuche
bringt mehr Licht in die bedrückenden Lebensumstände der Mutter, als
vielen Beteiligten lieb sein kann. Erzählt wird eine dieser Lebensgeschichten,
die, wäre sie ein Filmscript, jeder Produzent als übertrieben ablehnen
würde. Mechthild wird in einer Bombennacht 1942 geboren. Die Familie ist
streng katholisch. Mit 16 wird die offenbar renitente dritte Tochter einem kirchlich
geführten Jugenddorf „zugeführt". Dort leben ansonsten nur Waisen.
„Sie trug eine Last mit sich herum", sagt eine der Heimkameradinnen, die
Schmitt im Jugenddorf zusammenführt.
Im
Film kommen auch Mechthilds Schwestern zu Wort. Ihre Wahrnehmung scheint die
einer mehr oder weniger normalen Familie zu sein. Nur Mechthild war anders.
Schmitt rekonstruiert Ungeheuerliches: Ein Jesuitenpater und „Freund der Familie",
macht sich erst an die Mutter, dann an die Tochter heran, vergewaltigt sie in
regelmäßen Abständen. Die Eltern dulden das Verbrechen. Nach
jedem Akt beten Täter und Opfer um Vergebung, dann erteilt der Pater dem
Mädchen die Absolution: „Der Schuld-Trick hat ein Leben lang funktioniert",
notiert Mechthild im Tagebuch. Mit 14 wird sie schwanger, entbindet zuhause
auf dem Küchentisch eine Totgeburt. Sie wird der Familienraison geopfert
- „Ihr habt mich verraten und verkauft", schreibt sie später -, und
auch eine zweite Geburt wird totgeschwiegen. Das Kind lebt, wird zur Adoption
freigegeben, seine Spur verliert sich. Ist der Junge im selben Jugenddorf aufgewachsen
wie seine minderjährige Mutter? Steckt ihr Peiniger hinter ihrer Einweisung?
Schmitt sucht den greisen Jesuitenpater in einem Altenheim auf und hört
den verräterischen Satz: „Hoffentlich hat sie sich nicht meinetwegen umgebracht."
300.000
Kinder werden nach Schätzung des Bundeskriminalamts jährlich in Deutschland
missbraucht. Eine schreckliche, wenn auch abstrakte Zahl. Indem sich Schmitt
- in eigener Sache - eines exemplarischen Falls annimmt, beleuchtet er die Wirklichkeit
hinter der Dunkelziffer. „Wenn einer von uns stirbt" könnte noch verstörender
wirken, wenn Schmitt nicht dazu neigte, einige Tagebuch-Erinnerungen seiner
Mutter nach „bester" Fernsehdoku-Manier in Szene zu setzen. Eine Einstellungsfolge
mit Hofkindern, die in den 1950er-Jahren „Himmel-und-Hölle" spielen,
geht noch an; wenn „Pater K." in zwei kurzen Spielszenen leibhaftig erscheint,
schrammt der Film jedoch haarscharf am Rand der Lächerlichkeit vorbei.
Weniger
geglückt sind auch die Passagen, in denen über Bildern von Mechthilds
letzter Lebensstation Bremerhaven Meret Beckers Singstimme erklingt, Momente,
in denen Suzanne von Borsody Tagebuchnotizen vorträgt oder August Diehl
mit wohlgesetzten Worten den Sprecherpart absolviert. Jan Schmitt ist öfter
im Bild zu sehen, warum also spricht er seine Gedanken nicht selbst aus? Das
Staraufgebot für die Tonspur seines Films ist - hinsichtlich der Breitenwirksamkeit
- ebenso verständlich wie kontraproduktiv, weil es einen Staatsschauspielerton
einführt, der die Härte der Wirklichkeit letztlich abmildert.
Der
Film pendelt etwas unentschieden zwischen Trauerarbeit und Reportage. In der
Aufarbeitung religiöser Doppelmoral und kirchlicher Mitverantwortung am
Missbrauch - ein Thema, das weltweit Schlagzeilen macht, liegt seine Stärke.
Ein mulmiges Gefühl bleibt da, wo der Eindruck entsteht, Schmitts investigativer
Furor könnte seiner eigenen Familie die Auseinandersetzung verbauen. Muss
- in aller Öffentlichkeit wohlgemerkt! - jeder Teppich angehoben, jeder
Winkel ausgefegt werden? Wo beginnt der private Schutzraum, der auch einer Toten
gewährt werden sollte? Mit dem Abspielen einer erschütternden Therapie-Tonbandaufnahme
überschreitet Schmitt eine Geschmacksgrenze.
Wie
viel hält ein Mensch aus? Mit dem Tod ihres geliebten zweiten Mannes scheint
Mechthild allen Lebensmut zu verlieren. Am Ende zieht ihr eine frühkindliche
Erinnerung restlos den Boden unter den Füßen weg. Es ist die Erinnerung
an den Missbrauch durch den Vater, die ihr während einer Sitzung im Rahmen
einer Gestalttherapie-Ausbildung ins Bewusstsein schießt. Ein heikler
Punkt im Film, weil er durchblicken lässt (aber nicht problematisiert),
wie fahrlässig heute mit psychischen Erkrankungen und deren Behandlung
umgegangen wird. Wer lässt eine Frau, die selbst eine aufreibende Psychoanalyse
hinter sich hat, zu einer Therapeutenausbildung zu?
Unklar
bleibt, ob Mechthild niemanden hat, der sie in ihrem seelischen Zustand auffangen
kann - oder ob sie eine solche Hilfe womöglich gar nicht will. „Niemand
war da, der ihre Lebensperspektive noch einmal hätte öffnen können",
sagt eine Freundin, die Schmitt in der Türkei aufgespürt hat. „Hätte
sie sich auch anders entscheiden können", fragt der Regisseur, „für
sich, für uns, für das Leben?" Am Schluss besteigt ihr Sohn den
Eiffelturm. Mechthild ist dann doch nicht nach Paris gefahren.
Jens
Hinrichsen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Wenn
einer von uns stirbt, geh' ich nach Paris
Deutschland
2008 - Regie: Jan Schmitt - Darsteller: Michel Haebler, Suzanne von Borsody
(Sprecherin), August Diehl (Sprecher), Meret Becker (Gesang) - FSK: ab 12 -
Länge: 81 min. - Start: 19.11.2009
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