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Whity
1878 irgendwo im Westen der Vereinigten Staaten. In einem Herrenhaus, das einem
Mausoleum gleicht, residiert die FamiIie Nicholson: der Gutsbesitzer Ben Nicholson
(Ron Randell),
seine nymphoman veranlagte zweite Frau Katherine (Karin Schaake), die beiden
Söhne aus erster Ehe, der homosexuelle Frank (Ulli Lommel) und der geisteskranke
Davy (Harry Baer). Unterwürfiger Diener der Nicholsons ist der Neger Whity
(Günther Kaufmann), ein illegitimer Sohn Bens. Selbslbewußtsein gewinnt
er erst, als nacheinander mehrere Mitglieder der Familie ihn auffordern, andere
Familienmitglieder zu töten. Whity vollstreckt das Urteil, das die Nicholsons
längst über sich gesprochen haben: er erschießt alle, Ben, Katherine,
Frank und Davy. Mit der Prostituierten und Barsängerin Hanna (Hanna Schygulla)
zusammen verläßt er den kleinen Ort. In der Wüste fehlt es ihnen
an Wasser; sie werden verdursten.
WHITY war wohl Fassbinders erfolglosester Filmt. Die Uraufführung
während der Berlinale 1971 fand wenig Resonanz; WHITY blieb ohne Verleih,
kam auch nicht ins Fernsehen. Die Gründe sind leicht zu nennen. Die vorangegangenen
Filme waren alle mit dem Anspruch aufgetreten, oder zumindest so interpretiert
worden, etwas über die Gesellschaft der Bundesrepublik auszusagen, und
sei es auch in verfremdeter Form. Mit WHITY bekannte sich Fassbinder nun zum
ersten Mal uneingeschränkt zu Hollywood, und auch noch zu HoIIywoods verachtetstem
Genre, dem Melodram. WHITY, schrieb damals der Kritiker Alf Brustellin, nehme
sich schon deshalb im Wettbewerb der Berlinale komisch aus, »weil nahezu
alle >Urfilme< zu diesem Film niemals zu Festival-Ehren gelangten«
(Süddeutsche Zeitung, 8.7.71). Man kann ergänzen: auch nur selten
zu Feuilleton-Ehren.
WHITY ist auch aus heutiger Sicht kein großer Film. Dennoch war er in
Fassbinders Karriere wichtig, den er nimmt ein wenig von dem vorweg, was dann
in der WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE sichtbar zutage trat, ein neuer, professionellerer,
freierer Umgang mit dem Medium Film. Das brachte auch Verluste: die unmittelbare
Anschauung, aus der die Vorstadtfilme, trotz alIer Zitate, gespeist waren, fehlt
hier. WHITY ist Ausdruck »einer nunmehr vollkommenen Sekundärerfahrung«
(a.a.O.). Darum wäre es unergiebig, den Inhalt von WHITY zu interpretieren.
Diese Dynastie Nicholson steht für nichts als sich selbst. Betrug und Mord,
Dekadenz und Auflösung sind wichtig nur als Farben und Formen, aus denen
sich der Film zusammensetzt. WHITY ist quasi eine Etüde. ein Versuch, einen
Film für ein großes Publikum zu drehen, indem man an die Filmkenntnisse
und Seherfahrungen der Zuschauer anschließt. Daß dieser Versuch
mißlang (eine Wiederaufführung des Films wäre allerdings reizvoll),
hat wohl damit zu tun, daß WHITY noch zu viel antiteater-Monotonie mit
sich schleppte.
Auch wenn man WHITY nur den Rang einer Übung zugesteht, ist es doch ganz aufschlußreich, zu beobachten, wie Fassbinder seine Vorbilder umgedeutet hat. Mich hat WHITY vor allem an Motive zweier Filme erinnert, an Band of Angels von Raoul Walsh (1957) und an Sternbergs Morocco (1930). Walsh erzählt von einem Plantagenbesitzer und ehemaligen Sklavenhändler (Clark Gable), der einem Negerjungen (Sidney Poitier) eine gute Erziehung gibt, worauf ihm dieser später, zusammen mit einem Mischlingsmädchen, im Bürgerkrieg das Leben rettet, In Morocco bevorzugt die Barsängerin Marlene Dietrich den einfachen Soldaten Gary Cooper, wie Hanna den Neger Whity, Marlene gibt Cooper einen Apfel (samt Zimmerschlüssel). Hanna schenkt Whity eine Rose. Beide Paare ziehen am Schluß in die Wüste, wobei auf Marlene und Cooper zwar Entbehrungen warten, aber nicht der Tod. Bezeichnend für den Fassbinder jener Zeit ist, daß er den Geschichten, die er übernimmt, die Happy Ends verweigert. WHITY ist ein Film des Pessimismus. Daß Whity und Hanna am Ende in der Wüste vor dem Verdursten miteinander tanzen, ist eine trotzige Geste, den Pessimismus hebt sie nicht auf.
WHITY ist der erste Film Fassbinders, den Michael Ballhaus fotografiert
hat. Auch bei WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE, DIE BITTEREN TRÄNEN DER
PETRA VON KANT, WELT AM DRAHT und MARTHA hat Ballhaus die Kamera gemacht. In
allen übrigen Filmen arbeitete Fassbinder mit Dietrich Lohmann, zuletzt
auch mit Jürgen Jürges, Ich glaube, die Wahl der Kameraleute ist bei
Fassbinder kein Zufall. Ballhaus hat die »reichen« Fassbinder-Filme
gemacht (mit Ausnahme von PETRA VON KANT, die nur etwa 325 000.- DM kostete).
Lohmann und Jürges die »armen«. Alle Filme von Ballhaus sind
in Farbe, Er beleuchtet anders als Lohmann und Jürges. Bei ihm treten die
Personen nicht aus dem Dunkel heraus, um wieder in ihm zu verschwinden. Sein
Licht ist gleichmäßig, lenkt die Aufmerksamkeit nie auf sich. sondern
immer auf die Geschichte. Fassbinder hat Ballhaus deshalb ausschließlich
für Filme genommen, die sich von der Beschreibung des Alltags lösen,
die sich ihre eigene Erzähl-Wirklichkeit schaffen. Alle Filme Fassbinders,
die sich Hollywood nähern, hat Ballhaus fotografiert. MARTHA ist ihr gemeinsames
Meisterwerk.
Fassbinder hat als einziger junger Regisseur der Bundesrepublik in den letzten fünf Jahren kontinuierlich arbeiten können. Sein häufig belächelter Fleiß, die fast hektische Überproduktion hatten zur Folge, daß kein Film Fassbinders mit dem Anspruch auftrat, über den Augenblick hinaus von Bedeutung zu sein (mit FONTANE EFFI BRIEST scheint sich das zu ändern). Fassbinder, dem die Beschaffung des Geldes offensichtlich kaum Schwierigkeiten bereitet, konnte sich Versuche wie WHITY leisten. 680 000,- DM für ein Experiment, das gescheitert ist (wenn man einen Film daran mißt, ob er sein Publikum erreicht). Er konnte es sich leisten Fehler zu machen, weil nicht jeder Film, wie etwa bei Haro Senft, um ein extremes Gegenbeispiel zu nennen, die Ideen, Träume und Frustrationen von fünf Jahren in sich aufnehmen, zum gültigen Werk formen muß. Wenn Fassbinder 1973/74 Filme wie MARTHA, ANGST ESSEN SEELE AUF und FONTANE EFFI BRIEST gelingen, dann sicher nicht zuletzt deswegen, weil er alles, was ihn interessierte, einmal ausprobieren konnte, und wenn er dabei gelegentlich noch so sehr scheiterte.
Wilhelm Roth
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: Rainer Werner Fassbinder; Band 2 (5. Auflage) der (leider eingestellten) Reihe
Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1985, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung
des Carl Hanser Verlags und des Autors Wilhelm Roth.
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale
mehrere Texte
Whity
Deutschland 1971, 95 Minuten (DVD:
92 Minuten)
Regie: Rainer Werner Fassbinder
Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raben
Kamera: Michael Ballhaus
Schnitt: Thea Eymèsz, Rainer
Werner Fassbinder
Ausstattung: Kurt Raab
Darsteller: Günther Kaufmann
(Samuel "Whity" King), Ron Randell (Benjamin Nicholson), Hanna Schygulla
(Hanna), Katrin Schaake (Katherine Nicholson), Harry Baer (Davy Nicholson),
Ulli Lommel (Frank Nicholson), Tomás Martin Blanco (falscher mexikanischer
Arzt), Stefano Capriati (Richter), Elaine Baker (Marpessa, Whitys Mutter), Mark
Salvage (Sheriff), Helga Ballhaus (Frau des Richters), Rainer Werner Fassinder
(Gast im Saloon)
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