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Zarte Parasiten
Schon die erste Szene stellt klar, dass Jakob und Manu
auf der Autonomie ihrer emotionalen Bindungen bestehen: Ein Junge hat einen
schönen Abend mit den beiden in einer Diskothek verbracht. Aber als die
beiden aufbrechen wollen, versteht der Junge nicht, dass ihm aus dem gemeinsamen
Abend keinerlei Ansprüche erwachsen. Auf schmerzhafte Weise markiert Jakob
eine Grenze, die man besser nicht überschreitet. Jakob und Manu sind offenbar
ein Paar, könnten aber auch Bruder und Schwester sein. Kurz darauf wird
Jakob auf einem Flugplatz fast von einem Segelflugzeug touchiert. Der erschrockene
Pilot nimmt Jakob in seinem Auto mit. Währenddessen sieht man Manu in der
Wohnung einer älteren Dame. Ist Manu eine Altenpflegerin oder die Enkelin
der alten Dame? Geradezu aufreizend arbeiten Christian Becker und Oliver Schwabe
(„Egoshooter“,
fd 36 916) mit Leerstellen, sparen mit Erklärungen
und Motivationen. Allmählich fügen sich die Informationen zu einem
Bild, das aber nicht erweitert oder vertieft wird.
Jakob und Manu haben einen neuen Markt entdeckt: Sie
stellen sich für emotionale Serviceleistungen zur Verfügung, und zwar
auf durchaus ambitioniertem Niveau. Einsame, alte Damen, die von ihren Verwandten
vernachlässigt werden oder vielleicht gar keine Verwandten haben, bekommen
von den beiden jungen Leuten Zuwendung, Wärme oder auch nur Zeit, um erzählen
zu können. Dass Jakob und Manu ihrer Tätigkeit recht professionell
nachgehen, zeigt Jakobs Bekanntschaft mit Martin und Claudia. Die Begegnung
auf dem Flugplatz war nämlich kein Zufall. Martin und Claudia haben ihren
Sohn verloren; ihre Trauer hat sie isoliert und ausgezehrt. In diese emotionale
Lücke zwängt sich Jakob, der schnell merkt, dass er Martin am Haken
hat, während Claudia reservierter reagiert. Dass diese Form der Dienstleistung
Risiken für die Dienstleister birgt, wird deutlich, als Jakob mehr als
nur professionellen Gefallen daran findet, als „Stand-in“ zu fungieren.
Jetzt rächt sich, dass es der Film versäumt,
seine Protagonisten auch nur rudimentär mit einer Geschichte zu versehen.
So scheinen Jakob und Manu manchmal wie Gespenster oder Projektionen der Bedürftigen.
Die Figuren agieren wie unter einer Glasglocke, die die Realität draußen
hält und allein die Konzentration auf die Psyche der Figuren wählt.
Man sieht sehr schön, was sich in der Beziehung zwischen Jakob und Manu
verändert, als Jakob sich plötzlich bei dem Ehepaar einlebt.
„Zarte Parasiten“ arbeitet mit viel Mühe daran,
alles in der Schwebe zu halten, will nicht urteilen, sondern nur zeigen. So
viel Zurückhaltung rächt sich durch die einkehrende Langeweile, wenn
die Schauspieler die Last, die ihnen aufgebürdet wird, nicht bewältigen.
Letztlich scheitert der Film vielleicht an Robert Stadlober, an dessen ausdruckslosem
Gesicht sich die Kamera festsaugt, doch kommt nichts, was einen für die
von ihm gespielte Figur einnehmen könnte.
So bleiben viele Fragen offen, aber nicht, weil die Filmemacher
dem Zuschauer seine Freiheit nicht rauben wollten, sondern eher aus Bequemlichkeit,
zentrale Fragen einfach im Dunkeln zu lassen. Warum zeigen sie nicht mehr von
den professionellen Umständen der Dienstleistung von Jakob und Manu? Warum
wird der Moment des Aushandelns von Preis und Leistung konsequent ausgespart?
Warum leben die beiden „Parasiten“ unter freiem Himmel im Wald? Weil sie sich
der Gesellschaft entzogen haben? Aber warum wird dieses Szenario dann ganz konkret
als Suspense-Moment genutzt? Mag sein, dass die Filmemacher all dies
sorgfältig reflektiert und entsprechende künstlerische Entscheidungen
getroffen haben, aber das Ergebnis wirkt prätentiös, Tiefe suggerierend,
obschon bereits an der Oberfläche nichts stimmt. „Zarte Parasiten“ setzt
auf Psychologie, vergisst darüber aber die Soziologie, weshalb die interessante
Ausgangsidee nur wenig von der Stelle kommt.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen im: film-Dienst
Zarte Parasiten
Deutschland 2009 - Regie: Christian Becker, Oliver Schwabe - Darsteller: Robert Stadlober, Sylvester Groth, Maja Schöne, Corinna Kirchhoff, Gerda Böken, Max Timm, Rainer Laupichler, Paul Nickel, Tom Schilling - FSK: ab 12 - Länge: 90 min. - Start: 9.9.2010
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