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Zeit
des Zorns
Kein
Licht am Ende des Tunnels
Rafi
Pitts‘ Film „Zeit des Zorns“ porträtiert Irans verlorene Generation
Aus der
Körnigkeit einer extremen Nahaufnahme löst sich allmählich das
Bild einer Gruppe von Motorradfahrern, zu deren Füßen die Fahne der
Vereinigten Staaten ausgebreitet liegt. 1980 haben sich die Islamischen Revolutionsgarden
versammelt, um ein Jahr nach dem Sturz des Schahs die siegreiche Revolution
zu feiern. Doch diese frisst ihre Kinder. Im Frühsommer des Jahres 2009
sind aus den motorisierten „Pasdaran“ berüchtigte Jäger geworden,
die nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen Demonstranten verfolgen
und das Recht auf freie Meinungsäußerung unterdrücken. Rafi
Pitts‘ neuer Film „Zeit des Zorns“ (Originaltitel: „Der Jäger“), der kurz
vor diesen Ereignissen entstand, ist bereits von dieser angespannten, latent
gewalttätigen Atmosphäre infiziert. In den Radionachrichten ist vom
trügerischen Samthandschuh die Rede, unter dem sich eine eiserne Hand verbirgt;
und im Off skandieren Protestierende: „Nieder mit dem Diktator!“
Jedoch
zeigt Rafi Pitts die schwelende Unruhe nicht offen, sondern er grundiert seinen
(offiziell genehmigten) Film damit über die Tonspur. Stattdessen vermittelt
er eine allgemeine Orientierungslosigkeit, die sich aus Isolation und Entfremdung
zusammensetzt, indem er Teheran als anonymen Großstadt-Moloch und als
eine Beton-Wüste, bestehend aus einem labyrinthischen Gewirr von Straßen,
Brücken, Unterführungen und Wohnsilos, inszeniert. Immer wieder sieht
man den von Pitts selbst gespielten Protagonisten Ali Alavi, der seit seiner
Entlassung aus dem Gefängnis als Nachtwächter in einer Autofabrik
arbeitet, durch lange, klaustrophobische Tunnel fahren, deren lichtes Ende jedoch
ausgespart bleibt und insofern keine Perspektive bietet. Denn die dunkle Passage
führt Ali aus der grauen Stadt, wo er mit seiner Frau Sara (Mitra Hajjar)
und der gemeinsamen 6-jährigen Tochter Saba lebt, in einen winterlichen
Wald, wo er sich in Gesten, die wie Ersatzhandlungen aussehen, als Jäger
ohne Beute inszeniert.
Als eines
Tages Alis Frau und das Kind verschwunden sind und er bald darauf in einer Atmosphäre
aus bürokratischer Schikane und Misstrauen erfahren muss, dass sie während
einer Demonstration „zwischen den Fronten“ erschossen wurden, mutiert der schweigsame
Einzelgänger zum Rächer. Er verschließt sich in seiner Trauer
und trägt mit aufgestauter Wut sein Gewehr in die marode Zivilisation zurück,
um es auf Polizisten zu richten. Doch bald wird aus dem kaltblütig wirkenden
Jäger der Gejagte, der sich zusammen mit zwei Polizisten, vom Regen durchnässt,
in einem ausweglosen Wald verirrt.
Rafi Pitts,
der seinen in genau komponierten Bildern erzählten Film als „neorealistischen
Western“ bezeichnet hat, weitet seine Analyse einer allgemeinen, von Paranoia
infiltrierten Orientierungslosigkeit zum Portrait einer Generation, „die im
System verloren“ ist. „Zeit des Zorns“ liefert keine schnellen Antworten zur
politischen und gesellschaftlichen Krise des Landes, sondern er zeigt die Widersprüche
zwischen behördlicher Willkür, Selbstjustiz und ersehnter Demokratie,
die Pitts am Ende seines beeindruckenden Films in einem absurd anmutenden Showdown
kulminieren lässt.
Wolfgang
Nierlin
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Zeit
des Zorns
Iran
/ Deutschland 2010 - Originaltitel: The Hunter - Regie: Rafi Pitts - Darsteller:
Rafi Pitts, Mitra Hajjar, Ali Nicksaulat, Hassan Ghalenoi, Manoochehr Rahimi,
Ismail Amini Young, Nasser Madahi - Prädikat: besonders wertvoll - FSK:
ab 12 - Länge: 88 min. - Start: 8.4.2010
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