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Die
Zeit ist aus den Fugen
Die
Straße gehört den Fußgängern
»Die
Zeit der Kunst ist eine andere Zeit als die der Politik. Das berührt sich
nur manchmal, und wenn man Glück hat, entstehen Funken«, wird Heiner
Müller in einer Schrifttafel vor dem Film zitiert. Der Schriftsteller verstand
sich auf beide Zeiten und, wie Christoph Rüters Film eindrucksvoll beweist,
war er beiden Zeiten um Jahrzehnte voraus.
Müllers
eigenes Ringen mit dem Sozialismus, das er in seiner hochgradig lesenswerten
Autobiographie mit dem programmatischen Titel »Krieg ohne Schlacht«
festgehalten hat, machte ihn immer wieder zum subversivsten der DDR-Schriftsteller,
auch wenn seine kryptischen Konstellationen nur den gewieftesten Bürgern
entschlüsselbar waren: Die Nutzlosigkeit einer aufoktroyierten Revolution,
wenn die vermeintlich Befreiten nicht mitmachen in »Der Auftrag«;
die Paradoxie der sozialistischen Bürokratie in der »Wolokolamsker
Chaussee IV«, die sich zur Produktivitätssteigerung immer neue Verbrechen
ausdenken und schließlich selbst begehen muss, um ein staatliches Feindbild
und somit die Propaganda aufrechtzuerhalten; und natürlich die völlig
Unverständlichkeit marxistischer Ideale des vermeintlichen Arbeiter- und
Bauernstaats im Alltagsleben der tatsächlichen Arbeiter und Bauern in den
wunderbaren Komödien »Die Umsiedlerin« und »Die Weiberkomödie«.
Aber
es ist Müllers Theaterfragment »Hamletmaschine«, das prophetisch
sein wird. Es entstand bereits 1977 bei einer Shakespeare-Übersetzung und
verwob das ödipale Revolutionsdrama von einem faulen Staate in einen neuen
und schuf reinen Sprengstoff. Der umgehend verbotene Text fand seine Uraufführung
1979 in Paris, lief danach mit großem Erfolg in den USA, in Westdeutschland
und weltweit, aber es sollte bis zum Sommer 1989 dauern, bis die Zensoren die
erste DDR-Aufführung zuließen. Müller selbst wollte einen siebeneinhalbstündigen
Mammutabend mit »Hamlet« und »Hamletmaschine« inszenieren
und warf sich in die Proben am Deutschen Theater in Ost-Berlin. »Vielleicht
ist es schon zu spät«, murmelt er während der Proben.
Rüters
Film, der mit Nachrichtensendungen beginnt und endet, begleitet die wochenlangen
Proben, und natürlich findet er erst mal endlos viele Anknüpfungspunkte
zwischen den Geschehnissen auf der Bühne und auf der Straße: Zwischen
die Proben schneidet er Bilder von Bevölkerungsmassen, die Barrikaden eindrücken,
Zäune überklettern, Botschaften besetzen. »Der Aufstand beginnt
als Spaziergang«, beschreibt der Hauptdarsteller der Hamletmaschine seinem
Publikum die Szenerie, und er meint damit eigentlich vergangene Volksaufstände
in Ungarn 1956, in Prag 1968 und in Ostberlin 1953. Nur dass draußen vor
den Türen der Probenbühne die Realität die historische Fiktion
längst ein- und überholt hat: »Die Straße gehört
den Fußgängern. Hier und da wird ein Auto umgeworfen. […] Polizisten,
wenn sie im Weg stehen, werden an den Straßenrand gespült. Wenn der
Zug sich dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einem Polizeikordon
zum Stehen. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. […] Aus dem Ruf
nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung.« So steht
es geschrieben, so sieht man es geschehen.
Dazwischen
immer wieder Heiner Müller, der aus der Zeit Gefallene, der selbst in seinem
eigenen Volksaufstand noch so fremd wirkt, dass die Massen ihn nicht verstehen
und beinahe ausbuhen. Auf der Großdemonstration, wo Christa Wolf, Stefan
Heym, Gregor Gysi und andere Aktivisten feurige Brandreden halten, verschreckt
sein nuscheliger Intellektuellentonfall spürbar das Publikum. Seine Schauspieler,
die meist in den kirchlichen Kreisen tätig sind, schlagen sich besser.
In der Sicherheit der Theaterflure fragt sich Müller dann, ob der Geist,
den Hamlet sieht, diese manifestierte Staatskrise, »einerseits Stalin
oder andererseits die Deutsche Bank« wäre. Und ob der ewige Nachfolger
Fortinbras eher der nordisch-blonde Übermensch wäre oder doch eher
Karl Marx oder ob es in der heutigen Zeit gar keinen Fortinbras mehr geben wird
oder ob gar Hamlet zu Fortinbras werden muss. Welch Prophezeiungen er da ausstößt
am Vorabend der nicht-dänischen Revolution.
Christoph
Rüter, eigentlich Dramaturg an der Freien Volksbühne im Westen, findet
für diese beiden Zeitreisenden, den Propheten Müller und den Zögerer
Hamlet, der laut eigenem Bekunden nur auf die Welt kam, um die aus den Fugen
geratene Zeit wieder einzurenken, filmische Mittel, die auf den ersten Blick
irritieren: Horrorfilmdröhnen begleitet uns gleich zu Beginn, wenn wir
mit wackliger Handkamera in Zeitlupe dem Autor durch die endlosen Katakomben
des Theaters folgen, diese finsteren Eingeweide der Kunst, durchzogen mit seinen
metallenen Adern der Strom- und Wasserversorgung, wie der Maschinenraum eines
feindlichen U-Boots, das sich tief unter den dahindümpelnden Staat manövriert
hat. Zwei Volkspolizisten kommen entgegen. Es gibt sprunghafte Shutter-Effekte,
wenn wir Ulrich Mühe das Schwert schwingen und Müllers rhythmisierende
Sätze herausbellen sehen. Dazu kommen Bild-im-Bild-Spielereien (die seltsam
passend wirken angesichts Müllers hochkomplexer Stück-im-Stück-Inszenierung)
und Split Screens sowie alle möglichen Verzerrungen und Verfremdungen aus
den experimentellen Anfangszeiten des digitalen Videozeitalters.
All
das wirkt auf den ersten Blick naiv bis schwer erträglich, stellt aber
mit der Zeit ein ebenso faszinierendes Zeitdokument dar wie die bildlichen Inhalte.
Der Film erweckt einen ästhetischen Eindruck, der spürbar anachronistisch
ist und den Betrachter wie eine Zeitmaschine um zwanzig Medienjahre zurückversetzt.
Bei der Ansicht von Die
Zeit ist aus den Fugen
verspürt man die gleiche unverständliche Nostalgie, die Menschen beim
Betrachten von Fernsehsendungen aus ihrer Jugend befällt (die typischen
Artefakte der analogen Videoaufzeichnungen vermitteln ein nahezu heimeliges
Gefühl). Das Gezeigte wird durch den antiquierten Stil weniger verfremdet
als vielmehr scheinbar authentisch naturalisiert, als historische Quelle gekennzeichnet
und glaubwürdig gemacht.
Zudem
setzt dieser Film Ulrich Mühe, diesem kürzlich verstorbenen und viel
zu spät entdeckten Nationalschatz, der damals die Hauptrolle spielte, ein
weiteres Denkmal: Als Hamlet schreit er gegen Honeckers seniles Gefasel an;
schneidet er Krenz das Wort und den Hals ab, der wie Claudius immer verzweifelter
deklariert, immer weniger gehört wird; hört er sich die Entschuldigungen
der Mächtigen an, während Mielke vor der Volkskammer der DDR seine
Liebe für alle Menschen verkündete und um Vergebung winselte. Letztlich
darf er sogar ganz real Hans Modrow interviewen (noch so einen Hamlet, der den
Umsturz einleitete und dann allzu schnell von der Bühne verschwand). Und
während Kohl und Kollegen am Brandenburger Tor ihre atonale Nationalhymne
in die Mikrophone krächzen, tigert der Horatio-Darsteller Jörg-Michael
Koerbl verwirrt über die Bühne. »Jetzt haben wir einen Fortinbras
mit einem birnenförmigen Kopf«, bemerkt er mit leiser Ironie in die
Kamera, und er weiß selbst nicht so recht, ob er darüber nun lachen
oder weinen soll. Deutschland, das wie eine klassische Tragödie aussah,
hat sich zur absurden Komödie gewandelt. Der Schauspieler nimmt seinen
Hut und verlässt eine Bühne voller Leichen und ein leeres Theater.
Und
als wäre das der Zauberkunst noch nicht genug, betätigte sich der
Meister in einer Podiumsdiskussion 1989 noch ein letztes Mal als erstaunlicher
Prophet der Geschichte: Heiner Müllers (wie er selbst gesteht: allzu optimistischer)
Traum von der Weiterschreibung des Sozialismus durch eine Überdosis Kapitalismus
»bis uns die Cola zu den Ohren rauskommt« kam fast zwanzig Jahre
zu früh – sie wird erst jetzt, angesichts der immer neuen kapitalistischen
Exzesse in Finanzwirtschaft und Ausbeutung, langsam als Tendenz sichtbar. Die
erste vom Staat enteignete Bank hätte man zu Müllers Ehren benennen
sollen.
Daniel
Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Die
Zeit ist aus den Fugen
D
1990. R,B: Christoph Rüter. K: Ingo Manzke, Holger Rusch, Manfred Hulverscheidt,
Rainer Lindemann. S:
Stephan Guntli. M:
Einstürzende Neubauten, The Stranglers u.a. D: Jörg Gudzuhn, Ulrich
Mühe, Dagmar Manzel, Klaus Piontek.
110
Min. absolut Medien ab 30.10.09
Sp:
Deutsch. Bf: 1.33:1. Ex: Booklet mit Materialien und Interviews.
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