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Lass
es einfach geschehen
Der schöne suberotische Moment im Kino: die
Zeit vergessen und sich hingeben. Sperr dich nicht! Lass es einfach geschehen!
Dann haben wir die momentane Dauer. Der Film fließt in dich herein, bis
du abgefüllt bist, und erfüllt gehst du raus aus dem Kino, die Wangen
leicht gerötet, der Blick geweitet, die Schulterblätter zusammengedrückt,
beschwingt. Was genau hatte drin im Dunklen den seligen Zustand bewirkt? Ergibt
das die Filmanalyse? Nää, höchstens die Eigenanalyse, hinterher.
Wir sind auf der Wahrnehmungs- und Erfahrungsseite, gelegentlich auch Rezeption
genannt.
Was also bewirkt leicht erhöhten Blutdruck?
Ist Adrenalin die Droge? Ist es vielleicht die tolle Botschaft des Films? Oder
wie kunstvoll die Montage ist und genial der Schnitt? Hatte ich das überhaupt
registriert, als ich wieder draußen war, in der anderen, allgemein als
wirklich bezeichneten Welt? – Seien wir offen: verhaften wir uns nicht dem Begriff,
der nach Monteur klingt oder nach Technotroniker, wie ja auch der Schnitt unangenehm
an die Schneiderin erinnert, mich jedenfalls, Frl. Raschke hieß sie, als
ich zwanzig war. Gut, ich weiß kein besseres Wort, für das, was mir,
wenn’s gut läuft, im Kino passiert. Ich bleib dabei, dass ich die Symptome
des Glücksgefühls beschreibe, das meins war.
Rhythmus.
Il faut trouver le rythme. Wir müssen den Rhythmus finden. Dazu braucht es zwei und
einen Ort: den Film, mich und das Kino, damals die Cinémathèque
française. Ich behaupte seit 1956, dass das Gemeinschaftserlebnis im
dunklen geschlossenen Ort das Größte ist. Hypnotische Helligkeit.
Ich bin froh, wenn der Film mich nicht alleingelassen hat und wenn niemand im
Kino auf die Idee gekommen war, etwas ins Handy reinzuflüstern. Wie der
Film das macht, weiß der Rhythmiker, aber das ist auch kein besseres Wort
für Monteur oder Schneider.
Für die empathische Motorik
braucht es weder Musik noch Worte. Sehen Sie sich im Kino „Die Passion der Jungfrau von Orleans“ von Carl Theodor Dreyer an und sperren Sie sich nicht!
Selbstverständlich können Sie auch zum weltweit einzigen Rezeptionsrhythmus-
und Charakterfilmfestival nach Wien fahren. Vertrauen Sie dem Direktor Hans
Hurch! Im letzten Herbst hatten Sie wieder eine gute Chance, ihr ganz persönliches
Hochgefühl zu haben, zu dem der Film ein klein wenig oder ganz viel beigetragen
hatte. Damit nun kein Irrtum entsteht: zu meinen Favoriten zählt auch ein
Film von 2006 mit ganz viel Beethoven, „Hommage an Ludwig van Beethoven“ von
Klaus Wyborny. „Missa solemnis“, dirigiert 1940 von Arturo Toscanini plus Klaviereinsprengsel
von Klaus Wyborny (2006). Auf der Viennale läuft anders als auf anderen
Festivals solch ein Film total normal im Hauptprogramm, und das Kino ist voll.
Für das Einstimmungserlebnis kam es dann letztes Endes
weniger auf den Toscaninitakt und die widerborstige Empathie der Einsprengsel
an, sondern auf die übergreifende Pulsierung der Bilder, die Dich fühlen
lässt, wie Dein Herz schlägt und wie die Augen offen bleiben. Ich
habe kein einziges mal geblinzelt.
Weitere Beispiele? Lieber nicht. Auch zu den Nebenwirkungen
ließe sich was sagen. Doch werden Fragen persönlich beantwortet dKuhlbrodt@csi.com. Okay, eins aber noch zum Prekariat. Kino kostet,
Runterladen nichts, DVD-Brennen nichts (Tschuldigung an die Filmvertriebe).
Bloß, vorm Monitor sind Sie Herr der Software. Sie bestimmen, was läuft
und wie. Kleine Ungeduld? Bildgeschwindigkeit 1 zu 2, 1 zu 4, 1 zu 20? Pause
machen, pinkeln gehen? Call annehmen? SMS lesen? Was rauchen? Sonst was nehmen?
Der oder die neben Dir findet den Film scheiße? Du nicht? Oder auch? Weil
Dich der Rhythmus nicht gepackt hat, weil Du Dich nicht fallen ließest,
weil Du es nicht geschehen ließest, weil Du am falschen Ort warst. Du
gehst, wenn es Dich juckt, ja auch raus, in den Club, vertraust dem DJ oder
Toscanini. Das brauchst Du, allein kommst Du nicht in Schwung. Aber von Wellen
und Vibrationen kriegst Du in Kathedralen und Kinos was mit, weil Du in Wallung
kommst, - naja, kommen kannst. Seit hundert Jahren geht das so. Glaub mir. Ich
weiß es von Vetter Hans Kuhlbrodt, der damals das Kino in Berlin-Köpenick
betrieb. Mir sitzt das im Blut.
D.K.
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
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